Drama am Nordpol:Gefangen im Eis

Vor 100 Jahren starb Julius Payer, Pionier der Arktis-Expeditionen. Bekannt wurde der Österreicher mit einer Forschungsreise 1872.

Von Birgit Lutz

Land. Endlich Land!" So steht es am 30. August 1873 in Julius Payers Tagebuch - und man vermag sich kaum vorzustellen, was der Anblick der plötzlich aus dem Nebel ragenden Felszacken für die 24 Mann auf der Tegetthoff bedeutete. Die Teilnehmer der Österreichisch-Ungarischen Nordpolar-Expedition waren mehr als ein Jahr zuvor, im Juli 1872, im norwegischen Tromsø aufgebrochen, um den nördlichsten Punkt der Erde zu erreichen. Sie segelten in Richtung der sibirischen Insel Nowaja Semlja; dann aber schloss sich dort am 21. August 1872 das Eis des Polarmeers um ihr Schiff. Seitdem waren sie mit ihrem Schoner eingesperrt und mussten hilflos mitansehen, wie er mit dem Eis driftete.

Diese Expedition wurde zu einem zentralen Ereignis im Leben der beiden Kommandanten an Bord: der in Darmstadt geborene Carl Weyprech, der zur See die Befehle gab, und der Österreicher Julius Payer, der zu Land verantwortlich war. Payer wurde 1841 im nordböhmischen Teplitz geboren, am 29. August jährt sich sein Todestag zum 100. Mal. Vor dieser Expedition hatte er als Kartograf mehr als 70 Gipfel der Ortlergruppe bestiegen - zu Zwecken der Landvermessung. Mehrere Gipfel, Pässe und ein Gletscher sind nach Payer benannt.

Frank Berger, Kurator am Historischen Museum Frankfurt, hat nun in einer umfassenden Biografie das abenteuerliche Leben dieses Mannes nachgezeichnet ("Julius Payer. Die unerforschte Welt des Meeres und des Eises", Tyrolia Verlag). "Payer", sagt Berger, "hat vier Leben in eines gepackt, man könnte sagen, er war ein Universalgenie. Als Kartograf und Polarforscher schrieb er Geschichte, wurde zum erfolgreichen Schriftsteller und auch noch zum Maler - und in allen vier Disziplinen erreichte er einen sehr hohen Grad an Perfektion."

Julius von Payer und Karl Weyprecht

Auf dem Gemälde "Nie Zurück" hielt Payer später fest, wie Kommandant Weyprecht seine Männer beschwörte, zu Fuß nach Süden zu gehen.

(Foto: Hulton Fine Art Collection/Getty)

Ins Eis aufgebrochen war Payer, um eine gewagte Theorie des deutschen Geografen August Petermann zu überprüfen: Dieser nahm an, dass durch den warmen Golfstrom das Meer zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja auch im Winter nie völlig zufrieren würde. Nach dem Überwinden eines Treibeisgürtels könne man in offenem Wasser zum Nordpol segeln. Doch um das herauszufinden, mussten sich Menschen damals aufmachen, um selbst nachzusehen. Finanziert hatte die Forschungsreise Johann Nepomuk Graf Wilczek , ein österreichischer Polarforscher und Mäzen. Dann aber schloss sich das Eis um das Schiff, die freie Passage zum Nordpol war nur ein Traum. Payer schreibt in seinem Tagebuch: "Verzweiflung hätte uns erfüllen müssen, hätten wir an diesem Abend gewusst, dass wir fortan verdammt seien, willenlos den Launen des Eises zu folgen, dass das Schiff niemals wieder seinen Beruf werde erfüllen können. So aber hofften wir von Tag zu Tag, durch Jahre hindurch, auf die endliche Stunde der Befreiung!"

"Tag für Tag, durch Jahre hindurch, hofften wir auf die endliche Stunde der Befreiung!"

Sie kam nicht. Es folgte ein Winter in Dunkelheit und Kälte. Im Sommer 1873 wurde klar, dass sich die Hoffnung, das Eis möge die Tegetthoff wieder freigeben, in diesem Jahr nicht mehr erfüllen würde. Trotz aller Monotonie und der Gefahr, dass das Holzschiff zwischen den mächtigen Eisblöcken zerquetscht werden würde: Payer und Weyprecht gelang es, die Moral an Bord hoch zu halten, indem sie für Beschäftigung und einen strikten Zeitplan sorgten, der Orientierung geben sollte im immerwährenden Licht im Sommer und im immerwährenden Dunkel während der Wintermonate. In diese schwierige Zeit, in der das Schiff schon mehr als ein Jahr im Eis gefangen war, ragten auf einmal diese Felsen hinein und schallte der Ruf: "Land in Sicht!"

Die Entdeckung wurde sogleich mit einem kräftigen Grog gefeiert, die neu entdeckte Gegend Kaiser-Franz-Joseph-Land genannt, nach dem regierenden Kaiser von Österreich-Ungarn. Was die Männer sahen, war das noch 68 Kilometer entfernte, 491 Meter hohe Massiv des Kap Tegetthoff auf der heutigen Insel Hall. Zu groß war die Distanz freilich noch, zu unüberwindbar die Eisbarriere. Erst zwei Monate später, am 1. November 1873 konnten die Männer das Land betreten. Payer schreibt: "Alle Bedenken schwanden; voll Ungestüm und wilder Aufregung kletterten und sprangen wir über das zu Wällen getürmte Eis nach Norden, und als wir auch den Eisfuß überwunden hatten und es wirklich betraten, sahen wir nicht, dass es nur Schnee, Felsen und festgefrorene Trümmer waren, die uns umgaben, und dass es kein trostloseres Land auf Erden geben könne als die betretene Insel, für uns war sie ein Paradies, aus diesem Grund erhielt sie den Namen Wilczek-Insel."

Portrait of Julius von Payer

Payer in Arktiskluft.

(Foto: De Agostini/Getty Images)

Payer entdeckte, dass es sich um keine zusammenhängende Landmasse handelt, kartierte so viel wie ging, und erreichte am 12. April 1874 den nördlichsten Punkt der Inselgruppe, und damit den nördlichsten Punkt Eurasiens: Das Kap Fligely auf der Rudolphs-Insel, sogleich benannt nach dem österreichischen Kronprinzen.

Eisbären bedrohten die Männer, ein Schlittenteam fiel samt Hunden in eine Gletscherspalte - und wurde gerettet. Die seltsame Atmosphäre dieser eisigen Inseln zog Payer in ihren Bann. In seinem Tagebuch schreibt er: "Wenn das Strandeis nicht durch Ebbe und Flut klingend erhoben wurde, der Wind nicht seufzend über die Steinfugen dahinstrich, so lag die Stille des Todes über der geisterbleichen Landschaft. Wir hören von dem feierlichen Schweigen eines Waldes, einer Wüste, selbst einer in Nacht gehüllten Stadt. Aber welch ein Schweigen liegt über einem solchen Lande und seinen kalten Gletschergebirgen, die in unerforschlichen duftigen Fernen sich verlieren, und deren Dasein ein Geheimnis zu bleiben schien für alle Zeiten."

In dieser Zeit starb Otto Krisch, der Maschinist der Tegetthoff, an Lungentuberkulose. Er wurde auf der Wilczek-Insel beerdigt, wo sein Grab heute noch auf den windumtosten Klippen zu sehen ist. Nach der Rückkehr von der dritten Schlittenreise trafen Weyprecht und Payer eine folgenreiche Entscheidung: Es musste damit gerechnet werden, dass das Eis die Tegetthoff auch im folgenden Sommer nicht freigeben würde. Die Vorräte aber würden irgendwann zur Neige gehen. Wollten die Männer überleben, so mussten sie das Schiff verlassen und eine Rettung im Süden suchen - solange sie noch konnten.

Vor den Männern lag eine schier unmenschliche Kraftanstrengung: Die Ausrüstung, Zelte, Proviant, die Messergebnisse und Karten wurden in die hölzernen Rettungsboote gepackt. In diesen, so der Plan, wollten sie nach dem Erreichen der Eiskante nach Nowaja Semlja segeln, wo sie auf einen Walfänger zu treffen hofften. Am 20. Mai 1874 verließ die Mannschaft dieTegetthoff. Das Eis war durch die Strömung und Eisdrift unzählige Male aufgebrochen und wieder gefroren. Meterhoch türmten sich Eisblöcke auf, über welche die schweren Boote vorsichtig gehievt werden mussten. Zwei Monate kämpften sich die Männer durch dieses gefrorene Niemandsland - dann sahen sie plötzlich die Tegetthoff wieder am Horizont. Die weite Strecke, die sie sich so hart erkämpft hatten, war durch die nordwärts führende Eisdrift plötzlich auf lächerliche zwei nautische Meilen verkürzt!

The crew of the Tegetthoff

Die Tegetthoff im Eis.

(Foto: De Agostini/Getty Images)

Man kann es sich nicht vorstellen, welch zerstörerische Wirkung auf Moral und Überlebenswillen dieser Anblick gehabt haben muss. Die Männer wollten auf das nun wieder so nahe Schiff zurück. Doch Weyprecht bekniete sie: Auf dem Schiff warte der sichere Tod. Die Vorräte würden zur Neige gehen, und irgendwann seien sie dann zu schwach, um sich noch selbst retten zu können. Diese Ansprache des Kommandanten, der seine Männer beschwört, hielt Julius Payer später in einem Ölgemälde fest, das heute im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien hängt. Es trägt den Titel: "Nie zurück". Payer selbst hatte in dieser nahezu aussichtslosen Situation, in der starke Führung und ein unbedingter Überlebenswille gefragt waren, keine Heldenrolle inne; auch seine Nerven lagen blank. "Payer, der als Mensch extrem ehrgeizig, sehr emotional, manchmal auch hinterhältig war, um seine Ziele zu erreichen, hat in seiner Verzweiflung auf diesem langen Weg gedroht, Weyprecht zu erschießen", erzählt Forscher Berger.

In winzigen Holzbooten durchquert die Mannschaft das offene Polarmeer

Weyprecht gelang es aber, die Mannschaft zu überzeugen. Sie machte sich erneut auf in Richtung Süden. Und erreichte am 14. August 1874 die Eiskante, das offene Wasser. Endlich konnten sie die Boote zu Wasser lassen. Nun folgte eine weitere Meisterleistung: In den winzigen Nussschalen durchquerten die Männer das offene Meer und erreichten am 18. August 1874 völlig erschöpft endlich die Insel Nowaja Semlja. Es war spät im Jahr und kein Schiff mehr in Sicht. Die Männer fürchteten, die letzten Fischer und damit ihre Rettung verpasst zu haben. Doch ein Schiff kam doch noch: Am 24. August 1874 fand der russische Schoner Nikolay die Mannschaft der Tegetthoff. Sie waren gerettet.

Mit dem Zug kehrte die Expedition quer durch Europa nach Wien zurück, in allen Bahnhöfen wurde sie euphorisch gefeiert. Im Zeitalter der Entdeckungen galten solche Männer als Helden. Zwar war der Nordpol nicht gefunden worden, dafür aber neues Land, das noch weiterer Erforschung harrte. "Payers Wort galt fortan viel unter den Polarforschern, die weiter auszogen", sagt Berger. Das faszinierende Schicksal der Tegetthoff inspirierte 1984 den Schriftsteller Christoph Ransmayr zu seinem Roman "Die Schrecken des Eises und der Finsternis".

Franz-Joseph-Land gehört seit 1926 zu Russland, jahrzehntelang waren die vergessenen Inseln im Eis militärisches Sperrgebiet. Heute sind sie Teil des noch jungen Nationalparks Russische Arktis, einige wenige Schiffe können das eisige Archipel in den Sommermonaten besuchen. Payer selbst kehrte nie mehr nach Norden zurück. Sein Expeditionstagebuch wurde ein großer Erfolg, er hielt Vorträge. Mit zunehmendem Alter hegte er jedoch großen Groll gegen Österreich, das seiner Meinung nach seine Leistung nicht genug honorierte. Nach seinem Tod wurde er aber am 4. September 1915 in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: