Dopingopfer Bernd Richter:Der Preis des Sportwettrüstens

Dopingopfer Bernd Richter: Bernd Richter bei einem Besuch der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam. In den 70er-Jahren war er vier Monate in diesem Stasi-Gefängnis inhaftiert.

Bernd Richter bei einem Besuch der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam. In den 70er-Jahren war er vier Monate in diesem Stasi-Gefängnis inhaftiert.

(Foto: Julian Röder)

Als Hammerwerfer wird Bernd Richter in der DDR gedopt - zur Mehrung des Ruhms der Republik. Heute ist sein Körper ein vergiftetes Wrack.

Von Claudio Catuogno

Treuenbrietzen in Brandenburg, eine Kindheit mit leerem Geldbeutel. Bernd Richter ist oft gerannt in diesen Jahren, meistens den Größeren davon. Nun steht er auf der Schlackebahn hinter dem Schulhof, der Sportlehrer hat ihn, den Drittklässler, aus einem sich prügelnden Knäuel gezogen und auf den Sportplatz bestellt. Laufen statt Raufen. Die halbe Schule schaut zu. Seine Gegner sind zwei Jahre älter, "aber ich", sagt Bernd Richter, "ich bin um mein Leben gerannt". 3000 Meter über die schwarze Schlacke, eine halbe Minute hat er den anderen abgenommen. "Danach dachte ich, ich falle tot um."

Aber dann ist es dieser Lauf, der für Bernd Richter alles zum Guten wendet: "Von dem Tag an hatte ich Freunde, Anerkennung. Das war die Wende."

Die Wende von Treuenbrietzen. 1964.

Der Sport hat Bernd Richter damals gerettet, und später hat ihn der Sport kaputtgemacht. Das ist eine Geschichte, wie sie viele erzählen können in der untergegangenen DDR. Und auch heute noch, lange nach der anderen Wende, der von ganz Deutschland, geht es in dieser Geschichte um Leben und Tod.

Tausende Körperdrehungen vor einer Spiegelwand

Aber zunächst ist da diese Hoffnung. In der fünften Klasse kommen die Talentsichter, sie vermessen ihn, wie sie Hunderttausende Kinder vermessen haben, um aus den viel versprechendsten von ihnen Schwimmer oder Turner, Turmspringer oder Ruderer und um aus Richter nun einen Hammerwerfer zu machen, zur Mehrung des Ruhmes der Deutschen Demokratischen Republik.

Richter hat nicht mehr viele Fotos aus dieser Zeit, eines zeigt ihn an der Kinder- und Jugendsportschule in Brandenburg an der Havel. Glückliche Jahre. Tausende Körperdrehungen vor einer Spiegelwand. Das Hammerwerfen ist vielleicht die komplexeste aller Disziplinen der Leichtathletik. Richter lernt schnell. Drei Umdrehungen des Körpers, um das Seil mit der Kugel unter Spannung zu setzen - und wenn man eine Millisekunde zu spät loslässt, hängt der Hammer im Netz.

Wie 1969 in Berlin. Kinder- und Jugend-Spartakiade. Beim Einwerfen übertrifft Richter den Altersklassenrekord, im Wettkampf sind dann alle drei Versuche ungültig. "So wütend hab' ich meinen Trainer noch nie erlebt." Das war aber okay. Bis heute sagt Bernd Richter über den Mann, der ihm Ersatz-Vater, Mentor und Vorbild war und der auch nur seine Befehle ausführte, wenn er Richter die Tabletten gab: "Mein Trainer war wie ein Gott für mich."

Irgendwann wirft Richter so weit, dass man den Zaun, der den Sportplatz von einem Getriebewerk trennt, nach hinten versetzen muss. Und dann wieder nach hinten. Und noch mal nach hinten.

"Vitamin Forte"

"Ich hab' ja meine Bestleistung innerhalb von zwei Jahren um 20 Meter verbessert." Bernd Richter, 60 Jahre inzwischen, Bauingenieur, berufsunfähig, Pflegestufe 1, sitzt in seiner Wohnung im Dörfchen Caputh am Schwielowsee in einem Sessel, und es klingt nur ein kleines bisschen spöttisch, wenn er jetzt über diese Leistungsexplosion lacht. Heute weiß er ja, dass das nicht möglich gewesen wäre ohne die "unterstützenden Mittel". Damals hat er sich einfach gefreut, dass er in den Förderkader gerutscht war, 15 Mark extra gab das für die Eltern und für ihn besseres Schulessen, Südfrüchte und "Vitamin Forte".

Gewundert hat sich Bernd Richter, als ihm Brüste wuchsen. Der Arzt sagte, das komme vom Schwitzen. Unter der Dusche haben die anderen gelacht, aber wenn Richter den Hammer dann wieder bis zum Getriebewerk warf, lachte niemand mehr.

Gut dokumentierte Doping-Geschichte

Die Geschichte des Dopingprogramms im DDR-Leistungssport, das auch Tausende Minderjährige umfasste, ist gut dokumentiert. Die Staatssicherheit schrieb mit und heftete alles ab. Protokolle, Studien, Medikationspläne. Vor allem dieser Umstand unterscheidet das Doping Ost vom Doping West, das, wie inzwischen belegt ist, auch weit verbreitet war und mit politischer Billigung stattfand in den Jahren des Kalten Krieges.

Dopingopfer Bernd Richter: Richter 1971 als Jugendlicher beim Hammerwerfen.

Richter 1971 als Jugendlicher beim Hammerwerfen.

(Foto: privat)

Kindgerechte Anabolika

Aber dass man Anabolika von einer Bonbonfabrik kindgerecht portionieren ließ (Schokolade, Gummibärchen, Fruchtgetränke), dass man mit dem Hochzüchten der Körper in der achten, neunten Klasse begann - das war doch eine Erfindung, die die DDR weitgehend exklusiv hatte. Doping? Das Wort gab es damals nicht an der Kinder- und Jugendsportschule. Es gab Trainer und Ärzte, die sagten: "Nimm das, ist gut für dich."

"Diplomaten im Trainingsanzug", so hat man die DDR-Athleten genannt. Die Medaillen, die sie abräumten, ihre Rekorde, die zum Teil bis heute in den Listen stehen wie ein Fanal - das alles war ein Zeichen nach innen und außen und drüben: Seht her, wie leistungsfähig dieses kleine Land ist! Aber um die DDR ging es Richter gar nicht. Es ging ihm um die Wettkämpfe, die Anerkennung, die Südfrüchte, die Möglichkeiten. "Der Sport war mein Leben."

Angstwort "Spartakiade-Verbot"

Sport, Leben, man muss das so existenziell verstehen, um nachvollziehen zu können, welche Panik 1972 ein einziges Wort bei ihm auslöst: "Spartakiade-Verbot". Wegen mittelmäßiger Noten, wegen eines Pullovers, den er einem Mitschüler aus dem Spind genommen hat, darf er nicht mit zum wichtigen Wettkampf. Wollen sie ihm den Sport wegnehmen? Seinen Traum zerstören? Heute weiß Richter: Das war nie geplant. Aber es muss ja irrationale Panik sein, wenn man nur mit ein paar Äpfeln, einer Cola, Sportschuhen und einer aus dem Schulatlas gerissenen Seite ("Osteuropa") in ein Flugzeug nach Ungarn steigt und das letzte Geld aus dem heimlichen Verkauf von Stiefvaters Fotoapparat in eine Zugfahrkarte Richtung jugoslawische Grenze investiert. Ziel: Leverkusen. Werfer-Stützpunkt des westdeutschen Sports.

Noch vor dem Stacheldraht, auf offener Strecke, warten die Soldaten. Zu Hause hat einer Richter verraten. Kein Leverkusen. Stattdessen: Einzelhaft in einem Militärgefängnis (acht Tage), im Staatsgefängnis Budapest (20 Tage), Verhöre in Hohenschönhausen (ein Tag), dann eingesperrt im Stasi-Gefängnis Potsdam-Lindenstraße (vier Monate) und in der Bauhofstraße, heute Henning-von-Tresckow-Straße (zwei Monate). Da ist Richter gerade mal 17 Jahre alt. Die DDR investiert viel Geld in ihre Talente. Aber wenn einer abhauen will, ist er kein zukünftiger Olympiasieger mehr, dann ist er ein Schwerverbrecher.

Bernd Richters Verließ in der Lindenstraße: ein Bett, das tagsüber hochgeklappt und an die Wand geschlossen wird, ein Hocker, ein Tisch, ein Waschbecken, ein Eimer. Raumhöhe 1,75 Meter.

Zurück ins Backsteinhaus

1997 ist Bernd Richter zum ersten Mal wieder rein in den roten Backsteinbau in Potsdams Innenstadt. Drei Stufen kam er die Treppe hoch, dann ist er umgefallen unter der Last der Erinnerungen. Inzwischen geht es. Seit 2006 kommt Richter regelmäßig her, ehrenamtlich, als "Zeitzeuge" erzählt er Besuchern seine Geschichte.

Das einstige Gefängnis ist heute eine Gedenkstätte. Und wer in der DDR als politischer Häftling eingesperrt war, dem steht eine Opferrente zu, 250 Euro pro Monat. Aber als im Jahr 2000 in Berlin die Prozesse gegen Drahtzieher des Zwangsdopings geführt werden, als unter anderem Manfred Ewald, der langjährige Präsident des DDR-Sportbundes, und Manfred Höppner, der Vize-Chef des Medizinischen Dienstes, wegen Körperverletzung zu Bewährungsstrafen verurteilt werden, schaut Richter nur mit halbem Auge hin. Er denkt: "Doping? Betrifft mich nicht." Schon kurz darauf betrifft es ihn doch.

"Vergiftung im Jugendalter"

Es ist ebenfalls das Jahr 2000, als Richter plötzlich nicht mehr laufen kann. Als man seine Knie untersucht, kommt heraus, dass alles Knorpelmaterial verschwunden ist, und weil die Ärzte das nicht glauben können, untersuchen sie auch andere Gelenke. Überall das Gleiche. Eine Lungenembolie überlebt Richter nur, weil er eh gerade im Krankenhaus liegt. Und irgendwann ist da eine plausible Spur: "Vergiftung im Jugendalter."

Er kennt keine Details

In Richters Akte gibt es keine Medikationspläne. Er weiß keine Details. Aber es gibt nun Gutachten, die seine Symptome mit denen anderer Betroffener in Verbindung setzen. Der Befund ist eindeutig. "Ich bin jetzt ein von der Bundesrepublik Deutschland anerkanntes Dopingopfer", sagt Richter. "Kaufen kann ich mir davon allerdings nichts."

Das ist der Teil der Geschichte, der in die Gegenwart weist: mit welcher Gleichgültigkeit Sport und Politik den Opfern des Wettrüstens heute begegnen. Richter zählt sogar noch zu den 194 Opfern, die 2002 eine Einmalzahlung erhalten haben, 10 438 Euro; längst aufgebraucht. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat 2006 auch noch mal Geld aufgetrieben für knapp 200 Betroffene. Aber inzwischen vertritt der Berliner Doping-Opfer-Hilfe-Verein über 700 Geschädigte. Es melden sich immer neue. Spätfolgen des Medaillenwahns: kaputte Organe, Tumore, Diabetes, Depressionen, Fehlgeburten, behinderte Kinder. Die Diplomaten von einst tragen immer noch Trainingsanzug - weil sie sich nicht mehr alleine ankleiden können.

Blendwerk fürs Publikum

Aber eine Opferrente? Cornelia Reichhelm, ehemalige Ruderin, hat sich gerade eine vor Gericht erstritten, acht Jahre lang trieb sie der Staat durch die Instanzen. Eine politische Lösung klemmt irgendwo zwischen Bundestags-Sportausschuss, DOSB und Bundesinnenministerium fest, zuletzt fand sich 2013 keine Mehrheit; da hatten die Grünen 200 Euro pro Monat gefordert.

Wenn Richter 200 Euro im Monat erhielte, würden die ihm von der Grundsicherung wieder abgezogen. "Am Geld kann es also nicht scheitern", glaubt Richter, "und das sagt mir, dass etwas viel Größeres dahintersteckt, was man sich nicht eingestehen will." Da mag er Recht haben. Die Stasi produziert heute keine neuen Opfer mehr. Und der Sport? Der zuständige Innenminister Thomas de Maizière hat kürzlich gefordert, deutsche Athleten müssten 30 Prozent mehr Medaillen gewinnen - wie, das sagte er nicht. Das Dopingkontrollsystem ist vor allem Blendwerk fürs Publikum, leicht zu umgehen. Der Spitzensport ist eine globale Muskelindustrie, ein Illusionstheater, an dem viele verdienen. Die Vergangenheit und ihre Opfer ernst zu nehmen, hieße, sich auch der Gegenwart zu stellen. Wer kann das wollen?

Der Sport fehlt

Der Sport: Bernd Richter hätte sich in Ungarn erschießen lassen, so stark war sein Traum vom Hammerwerfer-Glück. "Erschießen wär' mir egal gewesen." Richter, das merkt man schnell, ist keiner, der jammert; er ist glücklich verheiratet, hat Kinder, Enkelkinder, Freunde aus seiner alten Volleyball-Mannschaft. Aber ein einziges Mal in den vier Stunden, die man mit ihm in seinem Wohnzimmer sitzt, kann er dann doch die Tränen nicht unterdrücken. Als er sagt: "Ich bin so enttäuscht, weil sie mir meinen Sport weggenommen haben." Das ist das Schlimmste: dass der Sport ihm heute so fehlt.

Hypothetische Frage: Was, wenn er damals nicht nach Ungarn wäre? Wenn er weiter trainiert hätte, die Hammer-Hoffnung der DDR, wenn man ihn weiter mit Testosteron vollgepumpt hätte? Vielleicht wäre Richter heute Olympiasieger. Vielleicht wäre er auch nicht mehr am Leben. Wäre es das dann wert gewesen? Wie viele Jahre seines Lebens gibt man her für Ruhm, Pokal und Vaterland? Wie viele junge Sportler stellen sich wohl heute diese Frage, wenn man ihnen zuflüstert, ohne Epo, HGH und Eigenbluttransfusionen könnten sie es gleich bleiben lassen?

Richters Antwort auf die Frage, ob ihm das lieber gewesen wäre, mehr Gift und dafür mehr Medaillen: "Ich weiß es nicht."

Zu Fuß schafft Richter Meter

Das Backsteingebäude in der Lindenstraße, 25 Jahre nach der Stasi: Rechts daneben ist ein kleiner Einrichtungsladen eingezogen, links ein persisches Restaurant. Ins Straßenpflaster ist ein Spruch eingelassen: "Ich finde es wichtig, dass alle erfahren, was mit uns geschah, damit sie wissen können, dass die Freiheit, in der sie leben, nicht selbstverständlich ist."

In seinem Sessel sitzt Bernd Richter und zählt auf, wo er operiert werden müsste: am linken Kniegelenk, am Lendenwirbel, am linken Handgelenk, am linken Fußgelenk. Allerdings würde Richter vielleicht schon die erste OP nicht überleben. Also nimmt er Morphin. Regelmäßig muss er in die Schmerzklinik, sich neu einstellen lassen. Zu Fuß schafft er 30 Meter. Demnächst braucht wohl einen Treppenlift.

Wie sagte es im Jahr 2013 der CDU- Obmann im Sportausschuss, als das Thema Opferrente mal wieder ergebnislos versenkt wurde in Anlage 8 zum Protokoll der 240. Sitzung des Deutschen Bundestages? DDR-Dopingopfer - dieses Thema sei doch "eigentlich durch".

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