Dokumentation "Reise zum Horizont":Die Überfliegerinnen

Der Dokumentarfilm "Reise zum Horizont" erzählt die Geschichte zweier ungleicher Frauen, die mit dem Gleitschirm ihr Leben risikieren und es zugleich neu entdecken.

Ann-Christin Gertzen

Die Luft rauscht an den rotbraunen Klippen vorbei. Im Rücken der Berg, weit unten das Tal. Jemand pfeift zufrieden. Es ist Dörte Schwarz, die in ihrem Gurt im Gleitschirm sitzt und den Aufwind genießt.

Dokumentation "Reise zum Horizont": Nicht immer strahlt der Himmel so harmlos schön: Bei der Weltmeisterschaft 2007 in Manilla, NSW, Australien, überlebte Ewa Wisnierska einen Gewitterflug in einer Höhe von 9950 Metern.

Nicht immer strahlt der Himmel so harmlos schön: Bei der Weltmeisterschaft 2007 in Manilla, NSW, Australien, überlebte Ewa Wisnierska einen Gewitterflug in einer Höhe von 9950 Metern.

(Foto: Foto: Reise zum Horizont)

Der Dokumentarfilm "Reise zum Horizont" erzählt mit beeindruckenden Bildern die ungewöhnliche Geschichte zweier Frauen. Ewa Wisnierska, 37, ist eine der besten Wettkampfpilotinnen der Welt. Dörte Schwarz ist 69 Jahre alt und glaubt daran, dass sie das Abheben der Erde näher bringt. Als Ewa und Dörte sich vor rund zwei Jahren das erste Mal begegneten, sah die eine das Fliegen als Wettkampfdisziplin, für die andere war es das fehlende Puzzleteil in ihrem Leben.

Aufbruch in ein neues Leben

"Ich war auf dem Höhepunkt meiner Karriere", sagt Ewa Wisnierska über den Beginn der Dreharbeiten vor anderthalb Jahren. Sechs Worldcup-Siege in Folge hatte sie in ihrer noch jungen Laufbahn bereits hinter sich. Sie war Deutsche Meisterin und bis zum Weltmeistertitel dürfte es auch nicht mehr weit sein - zumindest dachte sie das. Für das Fliegen hatte die gebürtige Polin vor rund acht Jahren vieles aufgegeben: ihr sicheres Einkommen aus der eigenen Bar in Hamburg, die Wohnung, Freundschaften, den regelmäßigen Kontakt zu ihrer Familie.

Mit einem alten VW-Bulli zog sie von Wettkampf zu Wettkampf. Bereits ein Jahr nachdem sie das erste Mal von einem Abhang segelte, wurde sie Teil der deutschen Nationalmannschaft. Sie flog in Mexiko, Brasilien, Portugal und Argentinien. Ewa sicherte sich ihren Platz in dem von Männern dominierten Sport. Sie war eine Überfliegerin - und sich dessen durchaus bewusst. 2005 lief sehr gut, 2006 sollte noch besser werden. Doch dann kam alles anders.

Abheben und doch am Boden bleiben

Zur gleichen Zeit wollte Dörte Schwarz ihrem Traum endlich ein Stück näherkommen. 30 Jahre lang hatte sie auf den Moment des Abhebens gewartet. Seit sie in einem Familienurlaub in Kärnten einen Drachenflieger beobachtet hatte. "Dieser Moment, in dem man den sicheren Boden verlässt, über die Rampe hinausschießt und von der Luft getragen wird, hat mich fasziniert." Dabei geht es ihr vor allem um die Frage: Ist es möglich abzuheben und dabei am Boden zu bleiben?

Auf der nächsten Seite: Der erste schwere Absturz.

Die Überfliegerinnen

An ihrem ersten Tag in einer Nassauer Flugschule lud Fluglehrer Jochen Henrichs seine neuen Schülerin zu einem Abend unter Paraglidern ein. Dort traf Dörte Schwarz das erste Mal auf Ewa Wisnierska. "Zwischen uns war sofort eine besondere Verbindung", erzählen beide über ihr erstes Treffen.

Dokumentation "Reise zum Horizont": Ungleiche Freundinnen mit der gleichen Leidenschaft: Dörte Schwarz, 69, und Ewa Wisnierska, 37.

Ungleiche Freundinnen mit der gleichen Leidenschaft: Dörte Schwarz, 69, und Ewa Wisnierska, 37.

(Foto: Foto: Reise zum Horizont)

Ewa war es letztendlich auch, die Dörte dazu ermunterte, eine Höhenflugausbildung zu machen. Trotz eines Altersunterschieds von 34 Jahren entwickelte sich zwischen den Frauen eine tiefe Freundschaft.

Dörte Schwarz bat die 37-Jährige, sie bei einem Tandemflug in Mexiko zu begleiten. Dieses Elebnis brachte die Freundinnen noch enger zusammen und bestärkte Dörte in ihrem Beschluss, selbständig fliegen zu lernen.

Endlich alleine Fliegen

Die ersten Übungen im Höhenfluggelände in Kärnten liefen nicht so reibungslos, wie es sich die 69-Jährige vorgesellt hatte. Immer wieder nahm sie Anlauf und musste dann doch abbrechen. Oft kommt sie zum Startplatz und musste stundenlang auf gute Windverhältnisse warten. Im Film wirkt sie dabei sehr gelassen. "In Wahrheit hatte ich vor dem ersten Flug riesige Angst", gibt sie heute zu. Irgendwann lief sie dann einfach los, über den Abhang hinweg und flog. Ewa Wisnierska jubelte ihr dabei zu. In mehr als 20 Unterrichtsstunden lernte Dörte Schwarz das Fliegen, unzählige Male ging es Berg rauf, Berg runter.

In ihrem Ehrgeiz und dem ständigen Streben nach vorn sind sich beide Frauen sehr ähnlich. In ihren Zielen unterscheiden sie sich jedoch grundlegend. Als gläubiger Mensch sieht Dörte Schwarz in der Fliegerei die Möglichkeit, Gott ein Stück weit näherzukommen. "Vertrauen zu lernen", wie sie sagt. Ewa Wisnierska vertraute vor allem nur sich selbst und bezeichnete sich gar als Atheistin.

Die Jüngere lehrte die Ältere alleine zu fliegen und die Ältere lehrte die Jüngere nicht nur sich selbst zu vertrauen. Ein Geben und Nehmen.

Der erste schwere Absturz

"Durch die Wettkämpfe habe ich vergessen, wie schön es ist, einfach die Seele baumeln zu lassen", sagt die Frau, die "immer alles mitgenommen hat, was ging". Als Ewa Wisnierska im Februar 2006 beim Worldcup in Fiesch den Gleitschirm spannte, wusste sie, dass es kein guter Tag zum Fliegen war: "Trotzdem konnte ich damals noch nicht 'nein' sagen."

Die Folge: der erste schwere Absturz. Damals habe sie gespürt, dass niemand unsterblich ist. Die Flugbedingungen waren katastrophal: Es war windig, Gewitterwolken zogen heran, aber der Wettbewerb gestattete keine Pause, keine Angst.

Auf der nächsten Seite: Eine harte Landung.

Die Überfliegerinnen

Dokumentation "Reise zum Horizont": Ewa Wisnierska überzeugte Dörte Schwarz, an den Dreharbeiten mitzuwirken.

Ewa Wisnierska überzeugte Dörte Schwarz, an den Dreharbeiten mitzuwirken.

(Foto: Foto: Reise zum Horizont)

Nach einem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt ging Ewa wieder an den Start. Bis zu einem Übungsflug im Februar 2007 in Australien. Eine Gewitterfront trieb sie senkrecht auf 9950 Meter hoch. "Dass der Schirm das mitgemacht hat, grenzt an ein Wunder", sagt sie heute. Auch, dass er ohne Kontrolle flog. "Dass ich eine ganze Zeitlang bewusstlos war, ist mir erst klargeworden, als es in einer Höhe von 6000 Metern wieder hell wurde."

Eigentlich habe sie noch nie an etwas Übersinnliches geglaubt, sagt sie. Selbstbestimmung sei immer ihre oberste Priorität gewesen. Nach diesem Ereignis begann sie zu hinterfragen. "Warum habe gerade ich überlebt?" Ein chinesischer Wettkampfpilot wurde nur 50 Meter neben ihr vom Blitz getroffen. Ewa hatte Glück, er nicht.

Harte Landung

Solche Erfahrungen wollte die Wettkampfpilotin ihrer Schülerin ersparen. "Sie will oft die Grenzen nicht respektieren", sagt Ewa Wisnierska und fügt hinzu: "genau wie ich". Doch auch hier gibt es Unterschiede, denn für Dörte Schwarz sind Grenzen nicht nur körperlich oder wetterbedingt, sie sind vor allem von mentaler Natur. "Ich habe Probleme mit dem Landen", gibt sie zu. Und das beinhaltet für sie eine gewisse Metaphorik.

Nach den Dreharbeiten habe sie noch einmal einen Kurs belegt, nur um das Landen zu lernen. Doch gebracht habe das wenig. Starten sei kein Problem, doch für das Landen sei sie einfach nicht gemacht. Derzeit läuft sie auf Krücken, bei ihrem letzten Flug in Österreich brach sie sich mehrere Rippen.

Nicht der erste Absturz. "Ich kann sehr leicht in die Lüfte gehen", sagt sie. In ihrem Leben habe es ihr immer an einer gewissen Reife gefehlt, die vielen Bruchlandungen hätten ihr das verdeutlicht.

Vom Fliegen lernen

"Das Fliegen hat mich gelehrt, auf die Erde zu kommen", sagt Dörte Schwarz rückblickend. Schon als Kind habe sie immer das Gefühl gehabt, über den Dingen zu schweben. Erst mit dem Fliegen habe sie gelernt, zu schweben und gleichzeitig zur Erde zurückzukommen. "Ich habe einen neuen Platz auf der Erde gefunden", sagt sie.

Auch für Ewa Wisnierska hat sich das Leben verändert. "Das Wettkampffliegen hat mich gelehrt: Wenn man nicht aufgibt und Niederlagen einsteckt, kann man viel erreichen." Von ihrer Freundin Dörte Schwarz hat sie etwas anderes gelernt: "Ich genieße das Leben im Hier und Jetzt. Dann muss man eigentlich gar nichts tun - das Glück kommt von ganz allein."

Der Film "Reise zum Horizont" von Regisseur Thomas Latzel, läuft seit dem 6. November im Kino.

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