Diskussion um Sterbehilfe:"Es gibt ein Recht zu sterben"

Wer darf bestimmen, ob ein Leben zu Ende gehen soll? Ein Gespräch mit der Palliativmedizinerin Birgitt van Oorschot über unnötiges Leiden, Misstrauen gegenüber Angehörigen und Maximaltherapie für 94-Jährige.

Sarina Pfauth

Sie hat den Schlauch irgendwann einfach durchgeschnitten: Weil sie ihrer im Koma liegenden Mutter ein würdiges Sterben ermöglichen wollte, hat eine Frau deren künstliche Ernährung unterbrochen. Das Pflegeheim hatte sich geweigert, diesen Schritt zu gehen. Vor dem Bundesgerichtshof wird der Fall nun neu verhandelt - es ist ein Grundsatzprozess zu Fragen der Sterbehilfe: Wann darf bei unheilbar kranken, nicht mehr ansprechbaren Patienten die medizinische Behandlung abgebrochen werden? Ein Gespräch mit der Palliativmedizinerin Birgitt van Oorschot.

Birgitt van Oorschot, Oberärztin am Uniklinikum Würzburg, Palliativ, Ärztin

Dr. Birgitt van Oorschot ist leitende Oberärztin im Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin der Uniklinik Würzburg und betreut dort unheilbar kranke Menschen und ihre Angehörigen.

(Foto: privat)

sueddeutsche.de: Frau van Oorschot, wer darf bestimmen, ob ein Leben zu Ende gehen soll?

Birgitt van Oorschot: Zunächst einmal natürlich der Patient selbst. Wenn im Voraus verfügt ist, dass ein Mensch in der aktuell eingetretenen Situation bestimmte, auch lebensverlängernde Maßnahmen nicht wünscht, dann ist eine Fortsetzung auch von künstlicher Ernährung ohne Einwilligung rechtlich gesehen Körperverletzung.

Der Patient kann sich aber in einer solchen Situation meist nicht mehr äußern - das Schwierige für Ärzte ist dann, herauszuhören, ob die Betreuer oder Bevollmächtigten, zumeist handelt es sich um Angehörige, wirklich den Willen des Patienten umsetzen wollen - oder ob es um eigene Motive geht.

sueddeutsche.de: Ist Misstrauen in einer solch existentiellen Situation denn angebracht?

van Oorschot: Wir sind als Ärzte in solchen Situationen Anwälte der Patienten und dazu angehalten, sauber zu prüfen und den Patienten zu schützen und zu stützen in seiner Autonomie. Denn der kann sich in einer solchen Situation nicht mehr wehren. Manchmal wünschen sich die Angehörigen Therapiebegrenzung, weil sie die Situation nicht weiter ertragen. Oder weil die Pflege so teuer ist.

sueddeutsche.de: Das klingt eher nach einem Tatort-Krimi als nach Palliativstation.

van Oorschot: Für Angehörige ist es natürlich sehr schwer, kritischen Ärzten in der Klinik zu begegnen, die die Motive der Angehörigen noch einmal hinterfragen. In der Klinik sind die Familienverhältnisse oft nicht bekannt und für einen Mediziner ist aber nichts übler, als wenn auf Verlangen des Betreuers auf Ernährung verzichtet wird und hinterher kommt jemand und sagt: Das ging in Wirklichkeit nur um das Grundstück. Denn natürlich ist Pflege heute teuer. Ich würde mir Verständnis für die Position des Arztes wünschen - dieses Grundmisstrauen zu haben, gehört zu seinem Job. Und er muss den Job gut machen.

sueddeutsche.de: Wollen überhaupt so viele Angehörige, dass ihre Liebsten sterben dürfen - oder bestehen die meisten darauf, dass das Leben des Patienten um jeden Preis verlängert wird?

van Oorschot: Das ist individuell sehr unterschiedlich. Interessanterweise ist der Wunsch, dem Sterben Raum zu geben, keine Frage des Alters des Patienten. Oft haben ältere Angehörige große Mühe, sich von ihren uralt gewordenen Müttern oder Vätern zu trennen. Da kommt zum Beispiel bei einer 94-Jährigen der Wunsch nach Maximaltherapie. Da steht man als Arzt dann relativ ratlos davor.

sueddeutsche.de: Manchmal bietet der Arzt der Familie aber ja auch noch die unterschiedlichsten Therapiemöglichkeiten an - wer kann denn da schon nein sagen?

van Oorschot: Ja, das ist manchmal auch ein Problem, wenn den Leuten ähnlich wie in einem Kaufhaus losgelöst von der medizinischen Indikation alles Mögliche angeboten wird - und keiner überprüft im Fortgang der Behandlung die medizinische Sinnhaftigkeit der Maßnahme, dass zum Beispiel durch eine künstliche Ernährung oder zu viel Flüssigkeitszufuhr die Sterbesituation nur belastend verlängert wird.

sueddeutsche.de: In dem Gerichtsfall, den der Bundesgerichtshof nun entscheidet, ging es um ein würdiges Sterben. Die Patientin hatte ihrer Tochter gesagt, sie wolle nie an Schläuchen hängen. Es kam zu einem existentiellen Konflikt zwischen Pflegeheim und Familie. Ein Einzelfall?

van Oorschot: Das ist ein nicht selten auftretender Konflikt - und ein sehr vielschichtiger. Angenommen, in der Patientenverfügung steht, dass in einer Situation, in der keine Aussicht auf Heilung besteht, keine künstliche Ernährung gewollt wird, dann muss in einer entsprechenden Situation diese Verfügung umgesetzt werden. Das ist völlig klar, denn natürlich gibt es ein Recht zu sterben. Gleichzeitig kann aber keine Pflegekraft gegen ihren Willen gezwungen werden, Ernährung zu begrenzen - das ist eine Gewissensentscheidung. Ernähren gehört zu den pflegerischen Aufgaben und oft wird "Ernähren" fälschlicherweise mit "Lindern von Hunger und Durst" verwechselt. Erschwerend kommt hinzu, dass es bei Ärzten und Richtern leider große Wissensdefizite über die rechtlichen Grundlagen von Sterbehilfe gibt.

sueddeutsche.de: Wo sehen Sie die größte Wissenslücke?

van Oorschot: In der Debatte um ärztliche Entscheidungen am Lebensende wird juristisch zwischen aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe unterschieden. Wir haben 1557 deutsche Ärzte und 1254 deutsche Vormundschaftsrichter zu Entscheidungen am Lebensende befragt und sie gebeten, verschiedene medizinische Maßnahmen den genannten Formen der Sterbehilfe zuzuordnen. Juristisch korrekt handelt es sich sowohl beim Therapieverzicht als auch bei der Beendigung von künstlicher Ernährung und Flüssigkeitszufuhr um passive Sterbehilfe. Die Befragten haben dies vielfach anders gesehen. Den Abbruch von künstlicher Ernährung ordneten neun Prozent der Richter und mehr als acht Prozent der Ärzte der aktiven Sterbehilfe zu - und die ist in Deutschland ja nicht erlaubt. Unsere Unterscheidungen verschiedener Sterbehilfeformen ist zu kompliziert, wir sollten die international übliche Sprechweise von der 'Tötung auf Verlangen', 'Nichteinleitung beziehungsweise Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen' und 'Symptomlinderung mit möglicherweise lebensverkürzender Wirkung' auch in Deutschland übernehmen.

sueddeutsche.de: Selbst wenn der Arzt zustimmt und dazu ermutigt: Die Entscheidung, dem Kranken keine Nahrung mehr zu geben, muss für Angehörige sehr belastend sein.

van Oorschot: Da wird oft mit gemeinen Vorwürfen gearbeitet. Die Leute, manchmal sogar Ärzte, sagen dann: Sie können die Frau doch nicht verhungern lassen! Hunger wird aber nicht durch eine Magensonde gelindert, das kann auch durch Geschmack im Mund passieren. Viele Patienten haben auch kein Hungergefühl mehr, dann befüllt man mit der Sonde einfach nur noch ein Organ. Das richtig zu beurteilen, ist eine ärztliche Aufgabe.

Tipps für Angehörige von Schwerstkranken

sueddeutsche.de: Was würden Sie den Angehörigen empfehlen, die über die Fortsetzung von lebenserhaltenden Maßnahmen entscheiden sollen oder wollen?

Diskussion um Sterbehilfe: "Angenommen, in der Patientenverfügung steht, dass in einer Situation, in der keine Aussicht auf Heilung besteht, keine künstliche Ernährung gewollt wird, dann muss in einer entsprechenden Situation diese Verfügung umgesetzt werden. Das ist völlig klar, denn natürlich gibt es ein Recht zu sterben."

"Angenommen, in der Patientenverfügung steht, dass in einer Situation, in der keine Aussicht auf Heilung besteht, keine künstliche Ernährung gewollt wird, dann muss in einer entsprechenden Situation diese Verfügung umgesetzt werden. Das ist völlig klar, denn natürlich gibt es ein Recht zu sterben."

(Foto: ag.ap)

van Oorschot: Es ist unsinnig, das nicht im Konsens zu machen. Wenn der Arzt der Meinung ist, dass die künstliche Ernährung eingestellt werden sollte, das Pflegeheim das aber nicht mittragen kann - dann braucht es eine klinische Ethikkonferenz. Wichtig ist, zu versachlichen und Zeitdruck zu nehmen. Holen Sie andere mit ins Boot. Bitten Sie den Hausarzt, der den Patienten schon lange kennt, mit dem behandelnden Arzt Kontakt aufzunehmen. Wenden Sie sich an den Patientenfürsprecher oder das klinische Ethikkomitee. Man sollte alle Seiten an einen Tisch bekommt - damit es nicht so eskaliert, wie in dem jetzt verhandelten Fall.

sueddeutsche.de: Ist aktive Sterbehilfe ein großes Thema im Umfeld von Todkranken?

van Oorschot: Mir ist das selten passiert, dass mich jemand um aktive Sterbehilfe gebeten hat. Allerdings hat es auch ein anderes Gewicht, ob man untereinander darüber redet oder ob man dem Arzt davon erzählt - weil der diesen Wunsch möglicherweise anders hört als Angehörige.

sueddeutsche.de: Und vor dieser Endgültigkeit schrecken die meisten Familien zurück?

van Oorschot: Ich würde sagen, dass sich höchstens in einem Prozent der Fälle Angehörige an den Arzt wenden und den Wunsch nach einer Tötung auf Verlangen äußern. Es kommt aber natürlich oft vor, dass Familienmitglieder Sätze sagen wie: "Tun Sie was! Es kann doch nicht sein, dass er so leidet!" Das wird unter Umständen von Medizinern als Bitte um aktive Sterbehilfe gehört.

sueddeutsche.de: Ist es das nicht?

van Oorschot: Es kann auch schlicht den Wunsch nach einer kompetenten Schmerzlinderung ausdrücken. In einer unserer Studien wünschten sich elf Prozent der Angehörigen ernsthaft aktive Maßnahmen zur Lebensbeendigung. Das meistgenannte Motiv waren starke Schmerzen des Patienten, viel seltener die Angst vor einem unwürdigen Sterben.

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Ein Arzt in einer deutschen Klinik: Grundmisstrauen zu haben, gehört zu seinem Job. Und er muss den Job gut machen.

(Foto: ag.ddp)

sueddeutsche.de: Ist der Wunsch erfüllbar, am Lebensende nicht leiden zu müssen?

van Oorschot: Ja, in den allermeisten Fällen. Wenn das nicht passiert, dann liegt es entweder an schlechter Kommunikation, weil der Patient sich nicht traut, über seine Schmerzen zu sprechen - oder an der Unfähigkeit des Behandlerteams. Wir Ärzte können Schmerzen lindern, und wenn wir das gut machen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Leben dadurch verkürzt wird, sehr gering.

sueddeutsche.de: Was macht den Angehörigen von Schwerkranken am meisten zu schaffen?

van Oorschot: Unsicherheit. Wenn Angehörige nicht wissen, wie es um die Prognose bestellt ist oder sich das noch nicht geklärt hat. Wenn die Angehörigen wissen, dass es in absehbarer Zeit zu Ende gehen wird, dann entspannt das.

sueddeutsche.de: Und wovor fürchten sie sich am meisten?

van Oorschot: Bei Befragungen haben wir herausgefunden, dass Menschen ohne Pflegeerfahrung Angst vor körperlicher und psychischer Überforderung haben. Wer schon einmal einen Sterbenden gepflegt hat, weiß, dass er das schafft - solange das Umfeld Verständnis zeigt und er fachliche Beratung bekommt. Das Schlimmste für die Pflegenden war, wenn die Leute drumherum gesagt haben: Wie kannst du nur? Gibt ihn doch ins Heim!

sueddeutsche.de: Wie erleben Angehörige die Sterbesituation?

van Oorschot: Menschen erleben den ersten Sterbefall zunehmend erst in höherem Alter. Die Angehörigen, denen wir hier auf der Palliativstation begegnen, begleiten meist zum ersten Mal einen Sterbenden und sind deshalb oft verunsichert und aufgeregt, sie wollen alles sehr gut machen. Sie sind gleichzeitig Zuschauer und Akteure - und das ist anstrengend.

Dr. Birgitt van Oorschot ist leitende Oberärztin im Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin der Uniklinik Würzburg und betreut dort unheilbar kranke Menschen und ihre Angehörigen. Sie hat zuvor in Jena ein Modellvorhaben zur Entscheidungsbeteiligung von Patienten am Lebensende geleitet. Oorschot hat in Thüringen die Hospizarbeit und Palliativmedizin mit aufgebaut. Für diese Verdienste wurde sie 2005 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

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