Digitaltrend "Dog Shaming":Hund Opfer, ich Täter

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Der grausame Entenkiller - ein Chihuahua. (Foto: Quelle: dogshaming.com)

Der digitale Hundepranger "Dogshaming" hat eine Gegenbewegung hervorgebracht: Seit Neuestem bekennen sich Hundehalter öffentlich zu dem, was sie ihren Tieren angetan haben. Diese Missetaten sind - im Vergleich zu den Vergehen ihrer Hunde - zuweilen verblüffend perfide.

Von Violetta Simon

Wenn im Mittelalter jemand ein Verbrechen beging - Gotteslästerung, Diebstahl, Unsittlichkeit - kam er an den Pranger. Er musste seinen Kopf durch ein größeres Loch, seine Hände durch zwei kleinere schieben und dort so lange verharren, bis er ausreichend gebüßt und der Abschreckung gedient hatte. Zuweilen heftete man ihm auch einen Schandbrief an, aus dem hervorging, mit welcher Untat sich der Sünder seine Bloßstellung verdient hatte.

Solch raue Methoden sind heute nicht mehr üblich - inzwischen ist das Prinzip ein wenig kultivierter. Der Internet-Pranger ist nicht nur geruchsneutral und schöner anzusehen, er ist aufgrund seiner grenzenlosen Reichweite auch wesentlich effektiver. Und weil das World Wide Web vor nichts Halt macht, hat sich auch ein digitaler Pranger für Haustiere etabliert, vorwiegend für Hunde.

Hunde am Pranger

Auf einer Webseite namens Dog Shaming veröffentlichen Hundebesitzer Fotos von ihren Lieblingen, wenn diese gegen die Regeln verstoßen. Auf dass die Öffentlichkeit erfahre, was sich das Tier zuschulden hat kommen lassen, schreiben Herrchen oder Frauchen diese Untat auf einen Zettel, den sie neben das Tier legen - oder ihm umhängen.

Der erste Beitrag dieser Art erschien im August 2012 auf einem Tumblr namens Dog Shaming. Die US-Amerikanerin Pascale Lemire hatte eben ihren Dackel dabei erwischt, wie er die Unterhose ihres Verlobten zerkaute. Sofort dokumentierte sie die Tat - Hund vor zerstörter Unterhose, davor ein Zettel mit der Aufschrift "I am an underwear eating jerk" - und veröffentlichte das Foto. Nun konnte es jeder sehen: Der Dackel Beau war ein unterwäschefressender Nichtsnutz.

Die Idee fand sofort Zuspruch, jedenfalls bei Haustierbesitzern. Innerhalb kurzer Zeit hängten Tausende Herrchen und Frauchen - in den USA mum oder dad - ihren Hunden eine Untat an und posteten Beweisfotos auf dem Tumblr oder auf der dazugehörigen Webseite dogshaming.com. Auch auf Facebook wurde dem Phänomen Dog Shaming eine Seite gewidmet.

Piesler und Ententöter

Die Posts zeigen unter anderen einen Pekinesen namens "Mr. Chin", der es - so liest man auf dem Zettel, der um seinen Hals baumelt - lustig findet, auf Betten zu pinkeln. Eindringlich ist auch die Aufnahme eines scheinbar traumatisierten Chihuahua, der mit schreckgeweiteten Augen neben einer ausgeweideten Stoffente sitzt, um den Hals einen Zettel mit den Worten: "I killed my duck".

Bald gesellte sich ein Blog mit Bloßstellungs-Posts von Katzen - Cat Shaming - hinzu, eine Webseite namens "shameyourpet" für sämtliche Haustierarten folgte.

Nun dürfte auf der Hand liegen, dass sich "Dog Shaming" weder als Bestrafung noch zur Abschreckung eignet, da Tiere ja weder lesen noch schreiben können und auch nicht verstehen, dass sie von ihren erbosten Besitzern öffentlich bloßgestellt werden. Gerade deshalb erscheint die Vorgehensweise so perfide: Durch die unbeteiligte Mimik der Tiere wirken die Beschuldigten eher wie Sündenböcke, denen man eine Tat unterschieben will, die sie nicht begangen haben. Nun gut, hin und wieder ist die Beweislage so zwingend, dass selbst der Hund zu spüren scheint, worum es hier geht und einen schuldbewussten Blick aufsetzt.

Doch nun hat das wahre schlechte Gewissen, das laut Darwin ja nur der Mensch empfinden kann, eine geeignete Bühne gefunden: Die Pranger-Plattform hat einige Tierliebhaber zu einer Gegenaktion inspiriert. Auf der Foto-Plattform theberry.com bezichtigen sich unter dem Schlagwort "Reverse Dogshaming" nun Hundebesitzer selbst der Gemeinheiten, die sie ihren Hunden angetan haben.

Durch die Bilder erfährt man, wozu Menschen in der Lage sind: Sie unterdrücken die Instinkte der Tiere, knuddeln sie gegen ihren Willen, missbrauchen sie als Mülleimer für Reste oder - und das ist wirklich der Gipfel an Perfidie - schieben ihre Flatulenz auf ihren Hund.

Dieser Hund war das Opfer der Trinksucht seines Herrchens. (Foto: Quelle: theberry.com)

Aber auch unbeabsichtigte, aus Gedankenlosigkeit begangene Missetaten finden hier eine Plattform: der Hundehalter, der zu verkatert war, um den Hund auszuführen; die Mitarbeitern eines Tierheims, die den Geruch Millionen fremder Hunde nach Hause bringt - nach Hause, in sein Revier! Von ungefüllten Wasserschalen und Hundekeksdosen ganz zu schweigen.

Die personifizierte Reue

Im Gegensatz zu den ahnungslos bloßgestellten Hunden zeigen die Besitzer auf ihren Fotos in Körperhaltung und Mimik echte Reue, wirken geradezu zerknirscht von ihrer eigenen Gedankenlosigkeit oder Niedertracht.

Die Selbstanklage des Individuums, das die eigene Übertretung öffentlich gesteht, hat schon Peter Handke in den Sechziger Jahren in seinem Stück "Selbstbezichtigung" verarbeitet. Die Voraussetzung für diese Methode ist weitaus älter: Bereits in der Antike forderte das Orakel von Delphi in einer Inschrift an der Säule des Apollon-Tempels: "Erkenne Dich selbst."

Wie jeder weiß, ist Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung. Sollte es dennoch weiterhin Anlass zu Beanstandungen geben, wird sich die Kultur des "Reverse-Dogshaming" womöglich um eine weitere Stufe vervollständigen - zum Human Shaming. Demzufolge würde der Mensch, das personifizierte schlechte Gewissen, als Handelnder abgelöst. Die Entscheidung, ihn für seine Untaten bloßzustellen, läge beim Haustier.

Frauchen oder Herrchen hätten einen Schandbrief umhängen, vielleicht steckten Hals und Hände gar in einem groben Holzgestell. Denkbar wäre zum Beispiel eine Botschaft wie: "Ich habe meinen treuen Freund am Internetpranger bloßgestellt, nur weil er aus Einsamkeit mein iPhone zernagt hat." Der Hund selbst wäre dann natürlich überflüssig und daher nicht auf dem Bild zu sehen. Mal abgesehen davon: Einer muss ja das Foto machen.

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