Süddeutsche Zeitung

Digitale Jugend:Plädoyer für mehr Gelassenheit

Terror, Ballerspiele, Gewaltvideos, Pornografie: Wie können wir unsere Kinder davor schützen? Oder sollten wir sie eher fit machen für eine Welt des Wahnsinns?

Von Lars Langenau

Empörung unter den Eltern einer 2. Grundschulklasse im Münchner Westend: Wie könne es sein, dass die Kinder in der Nachmittagsbetreuung das Youtube-Video "Astronaut" von Sido und Andreas Bourani schauen? Ein Video mit tatsächlich drastischen Szenen von Demonstrationen, Neonaziaufmärschen, Krieg, Militarismus, Armut, Flucht, Tod, IS-Terror, Kaltem Krieg, Über- und Unterernährung, Umweltzerstörung, Körperkult. Gemixt ist die schnelle Bilderfolge mit Ausschnitten aus Zeichentrickfilmen - und friedlichen Bildern aus dem All auf unsere Welt. Die passende Textzeile: "Ich seh' die Welt von oben - wie ein Astronaut."

Es ist ein eingängiger Sound, ein guter Popsong. Doch die Mütter (es sind nur Mütter, die sich an der E-Mail-Empörung beteiligen) in der Klasse meiner Tochter beklagen, das sei nichts für Kinder. Für sie fällt das unter den großen Begriff "Jugendschutz".

Die Siebenjährige begreift die Aufregung nicht: Das seien "zwar harte" Bilder, sagt sie nach dem gemeinsamen Anschauen. Aber das gehöre eben auch zum Leben. Ihre größere Schwester, zehn Jahre alt, sagt: "Es zeigt, dass es in der Welt nicht nur liebe, sondern auch böse Menschen gibt" und wie "egoistisch" sie doch sein können.

360°: Digitalisierung der Kindheit

Schon die Kleinsten wischen auf Tablets, die Größeren können sich ein Leben ohne Smartphone nicht mehr vorstellen. Ihre Kindheit verläuft ganz anders als die ihrer Eltern, aber muss das schlecht sein? Bietet nicht gerade der frühe Umgang mit neuen Medien auch Chancen? Wie Eltern ihren Nachwuchs auf dem Weg in die interaktive Welt begleiten, was sie selbst dabei lernen können - ein Schwerpunkt.

Im Zweifel scheint das Video zumindest Empathie geweckt zu haben. Die Kleine sagt noch, dass sie ihren Nachmittagsbetreuer "cool" finde und sich das Lied viele aus der Klasse gewünscht hätten. Außerdem sei die Alternative Helene Fischer gewesen. Damit war das Thema für sie beendet. Am nächsten Morgen hatte keine von beiden einen Albtraum. Bei Helene Fischer wäre ich mir da nicht so sicher gewesen.

Vielleicht lag es daran, dass wir darüber geredet haben, dass sie die Bilder einordnen konnten. Verschweigen und Tabus sind nie eine Lösung, Friede-Freude-Eierkuchen auch nicht. Es gibt im Bekanntenkreis Eltern, die ihre Kinder vor den Ereignissen der Pariser Anschläge schützen wollen, indem sie die Nachrichten im Radio und Fernsehen ausschalten. Oder plötzlich selbst ein Fußballspiel in der Zweiten Liga meiden. Andere Eltern machen einen großen Bogen um Friedhöfe und gehen mit ihren Kindern nicht mal zur Beerdigung der Oma, weil es die Kinder "verstören" könnte.

Klar, man muss seine Kinder schützen. Aber ihnen vorspielen, das Leben sei ein Ponyhof? Ist das ein angemessener Umgang mit unserer Welt, die nun mal nicht ideal ist?

Kinder wissen und begreifen viel stärker intuitiv als wir ahnen. Der richtige Zeitpunkt, um sie aufzuklären, ist individuell verschieden. Man sollte es jedenfalls sehr früh versuchen. Denn die Verleugnung der Realität wird langfristig nicht funktionieren. Kinder sollten auch wissen, dass die Tiere in der Fleischtheke beim Metzger nicht totgestreichelt wurden. Welch ein Schock, wenn sie unvermittelt entdecken, dass die Welt eben nicht überall und allzeit eine duftende Blumenwiese ist.

Man kann dies liberal nennen. Manche nennen es Laissez-faire. Ich nenne das Erziehung zur Realität - und zur Mündigkeit.

Setzte ich meine Töchter deshalb auch Horrorfilmen und Pornografie aus? Tatsächlich habe ich ihnen - eher im Scherz - bereits angeboten, Spielbergs "Weißen Hai" anzuschauen (Teil 1). Ihre Antwort: "Papa, dann gehen wir nie wieder ins Wasser." Kluge Kinder. Mir wurde der Film mit zehn Jahren nur erzählt. Danach hatte ich sogar in der Badewanne Angst, von unten angeknabbert zu werden. Die eigene Fantasie kann oft so viel furchteinflößender sein als die schlimmste Wirklichkeit.

Kommt eine Kussszene in einem Film, drehen sie sich weg. Finden das ekelig. Noch. In naher Zukunft werden sie auf dem Schulhof aufschnappen, dass sich Küsse noch steigern lassen. Wir werden dann darüber reden, was Sex und Liebe wirklich sind und Pornos damit wenig zu tun haben.

Zeit zu schade, um sie zu verdaddeln

Meine große Tochter hat ein Smartphone, beide Kinder spielen unheimlich gerne mit dem Handy. Kinderspiele. Eine Konsole hatten wir mal ausgeliehen, irgendwie war uns aber unsere Zeit zu schade, sie zu verdaddeln. Faszinierend jedoch, wie schnell sie intuitiv die Bedienung der Konsumelektronik kapierten. Aber soll das eine Gefahr sein? Die Zehnjährige kommuniziert via Whatsapp mit ihren Freundinnen. Der Inhalt: Wie oft unsere Hasen saubergemacht werden sollten. Manchmal, wenn ich nicht da bin, bekomme ich von ihr eine Liebesnachricht.

Und sie erzählt von Klassenkameraden, die das gesamte Wochenende vor dem Computer sitzen und spielen. Die seien dann allerdings auch schlecht bei Aufsätzen, weil sie keine Fantasie hätten. Sie lese lieber, sagt sie, und bei den anderen sei es außerdem so: Die Eltern würden sich nicht um ihre Kinder kümmern.

Genau das ist das Problem: Vernachlässigung. Es kommt, wie bei so vielem im Leben, auf das Maß an. Und vernachlässigte Kinder können ohne Maß sein.

Ich bin ein Kind der 70er, 80er Jahre. Auf den Schwarz-Weiß-Fernseher folgte der Farbfernseher und dann einer mit Fernbedienung. Es gab drei Programme. Wir waren beschützt. Irgendwie. Trotzdem gab es Grausamkeiten von Kindern in der Schule. Untereinander. Gewalt im Bekannten- und Familienkreis. Und es gab die Angst vor dem Atomkrieg, die vielleicht vergleichbar ist mit der heutigen Angst vor dem Terror.

Natürlich haben die Erwachsenen auch über uns gemeckert. Jede Generation scheint der vorherigen verdächtig. Ja und? Das legt sich.

Wir konnten unsere Lehrer noch mit unseren Wunschliedern provozieren. Lehrer, die das Stöhnen von Jane Birkin in Serge Gainsbourgs "Je t'aime" nicht ertrugen. Heute wirkt das fast lächerlich. Als ich elf war, kursierten Videokassetten wie "Ein Zombie hing am Glockenseil" und "Man-Eater", unglaublich schlechte Filme, aber sehr interessant.

Schaute man dann diese Filme, fand man sie eh blöd. Aber manche unserer Lehrer dachten, wir würden später unseren Nachbarn verspeisen. Tun wir nicht. Genauso wenig wie Videospiele per se zu mehr Gewalt und Attentaten führen. Mag sein, dass Jungs von Ego-Shootern fasziniert und die Altersfreigaben fragwürdig sind. Automatisch zu Amokläufern werden sie deswegen nicht.

Jean-Jacques Rousseau plädiert in "Émile" für eine behütete, geschützte und geförderte Kindheit, in der jedes Kind frei in seiner Entfaltung ist. Maria Montessori, Johann Heinrich Pestalozzi stehen in seiner Tradition - und auch Theodor W. Adorno mit seinem schmalen Büchlein "Erziehung nach Auschwitz". Darin heißt es: "Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie (...); Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen."

Genau das ist es doch: Wir können versuchen, den Kindern diese oft wahnsinnig gewordene Welt zu erklären, ihnen helfen, Ereignisse und Bilder einzuordnen. Sie Empathie lehren - und hoffen, dass sie bei bestimmten Dingen nicht mitmachen.

Auch wenn wir sie nicht vor allem beschützen sollten, allem ausliefern müssen wir sie nicht. Aber es ist kein Beinbruch, sich schon mit sieben Jahren ein Musikvideo von Sido anzuschauen, in der Kindheit mal ein PC-Ballerspiel zu daddeln, und ab zehn ein Handy zu bedienen.

Wir brauchen mehr Gelassenheit. Jede Generation hat neue Herausforderungen - und wird sie meistern. Nur weil ein Smartphone heute viel mehr kann als mein ausgewachsener Computer zur Studentenzeit, sollte die Kirche trotzdem im Dorf bleiben.

In Sidos Lied tauchen folgende schöne Zeilen auf: "Von hier sieht man keine Grenzen und die Farbe der Haut", "Fast acht Milliarden Menschen und doch die Menschlichkeit fehlt" und "Sind wir nicht eigentlich am Leben, um zu lieben und zu sein?". Wir schauen das Video heute Abend noch mal an.

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