Süddeutsche Zeitung

Pro Dienstpflicht:Lebenserfahrung für alle

Junge Leute brauchen soziale Kompetenz als Vorbereitung auf das Berufsleben. Gleichzeitig würde die Gesellschaft vom Engagement einer Dienstpflicht profitieren.

Kommentar von Violetta Simon

Schade eigentlich: Hätte der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg die Wehrpflicht 2011 nicht abgeschafft, sondern in eine soziale Dienstpflicht für alle überführt, müsste die Debatte nicht, wie nun von der CDU, immer wieder aufgewärmt werden. So aber wurde die Chance vertan, soziales Engagement zu einem Teil der Ausbildung junger Menschen zu machen. Genau darum aber geht es bei der Dienstpflicht, deshalb ist sie so wichtig.

Mit G 8 und ohne Wehrpflicht stehen Schulabgänger theoretisch zwar früher als steuerzahlender Wirtschaftsfaktor zur Verfügung. In der Praxis legen viele jedoch ein Pausenjahr (Gap Year) ein und reisen um die Welt. Andere absolvieren ein Freiwilliges Soziales Jahr und zahlen viel Geld, um etwa in Borneo Orang-Utans auszuwildern. Umfragen zufolge fühlt sich mehr als die Hälfte der Abiturienten von der Schule nicht ausreichend auf das Berufsleben vorbereitet. Unternehmer beklagen die mangelnde Reife vieler Berufseinsteiger. Woher soll sie auch kommen?

Eine Gesellschaft, die sich an Klimawandel, Überalterung und sozialer Gerechtigkeit abarbeitet, ist angewiesen auf Menschen mit Kompetenz im Krisenmanagement. Schulabgänger könnten im Rahmen einer Dienstpflicht Erfahrung sammeln in medizinischer und sozialer Betreuung, Entwicklungshilfe, Integration, Katastrophenmanagement oder im Umweltschutz. Für viele wäre dies der erste Kontakt mit einer Realität, die gerade Männer nur selten im Alltag vermittelt bekommen. Trotz deren Dienst am Wickeltisch sind es noch immer die Frauen, die den Hauptanteil der Sorge-Arbeit leisten. Eine Dienstpflicht könnte Geschlechtergerechtigkeit im Privaten fördern und die Kluft bei der Bezahlung zwischen Männern und Frauen verringern.

Das Pflichtjahr muss auch attraktiv gestaltet sein

Zudem könnten alle Absolventen etwas Sinnvolles für das Gemeinwohl tun - ohne Angst, im Wettbewerb um Arbeitsplätze zurückzufallen. Bisher sind Auslandserfahrungen oft Schulabgängern aus einkommensstarken Familien vorbehalten. Netzwerk, Fremdsprache und Lebenslauf können Karrieren beschleunigen. Lebenserfahrung muss man sich jedoch leisten können. Absurderweise gilt dasselbe für gemeinnützige Tätigkeiten: Wer sich in sozialen Einrichtungen engagiert, muss mit finanziellen Einbußen rechnen. Kein Wunder, dass junge Leute lieber am anderen Ende der Welt gegen Honorar bei der Weinernte helfen, als unbezahlt in einem Kindergarten oder Pflegeheim. Schulabgänger zum freiwilligen Dienst an der Gesellschaft zu motivieren, ist so nur schwer möglich.

Insofern ist es bemerkenswert, dass nicht das Gap Year, sondern die Dienstpflicht von Gegnern als volkswirtschaftliche "Ressourcenverschwendung" kritisiert wird. Doch was ist mit der Verschwendung gesellschaftlicher und demokratischer Ressourcen? Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben und altern, in der soziales Engagement als Zeitfresser und Karrierekiller gilt? Soll soziales Engagement wirklich nur eine Sache von Sozialpädagogen und anderen vermeintlichen Idealisten sein? Wenn der Begriff "Ressourcen" neu definiert wird, lässt sich ein Pflichtjahr so attraktiv gestalten, dass nicht nur Überzeugte und Zuversichtliche mit gutem Beispiel vorangehen, sondern genügend andere folgen.

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SZ vom 18.12.2019/lot
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