Klar, dass dieses Kind in der Schule gehänselt wurde: Sein Körper war groß und dürr, die Ärmchen wie Spaghetti, und Lesley Hornby, die in einem Londoner Vorort aufwuchs, gehörte damit einfach nicht zum Durchschnitt. Ihre Gliedmaßen waren so zart, dass sie von ihren Klassenkameraden "Twigs" gerufen wurde, "Zweiglein".
Auch ihre Herkunft war nicht dazu angetan, sich in höhere Sphären aufzuschwingen: Der Vater war Zimmermann, die Mutter Verkäuferin bei Woolworth. Umso erstaunlicher also, dass dieses Mädchen, kaum dem Elternhaus entwachsen, eine ganze Welt auf den Kopf stellen sollte - eine Welt, die zwar schnell zu begeistern, aber selten nachhaltig zu verändern ist: die Welt der Mode. Aus dem bemitleideten dürren Mädchen wurde innerhalb kürzester Zeit das erste echte Topmodel, eine Mode-Ikone und das Schönheitsideal einer neuen Zeit. Was war geschehen?
Mit Twiggy selbst nicht besonders viel - außer, dass sie sich aufgerafft hatte, eine Friseurlehre anzufangen, im Laden ihrer Schwester. Ihr Körper war nach wie vor klapperdürr. Die Maße: 78-55-80. 1964 war Lesley 15 Jahre alt, die babyhaften Gesichtszüge waren noch nicht ganz aus ihrem Gesicht gewichen, die Augen groß und rund, der Mund klein und kindlich. Ein Kollege fand ihr Aussehen so außergewöhnlich, dass er sie zu Vidal Sassoon schickte, um Fotoaufnahmen machen zu lassen, weil er glaubte, dass sie sich als Haar-Model vielleicht ein paar Pfund dazu verdienen könne. Sie konnte.
Vidal Sassoon galt damals als der hippste Friseur in London. Nachdem sich die Friseure und Stylisten an ihr ausgetobt hatten, trug sie fortan einen blonden Bubikopf, wurde von einem berühmten Fotografen porträtiert, ihr Gesicht erschien auf dem Cover einer Zeitschrift - und schlug ein wie eine Rakete. Ob es ihre kindlichen Züge in Zusammenhang mit dem knabenhaften Körper, die eigenwillige Frisur oder ihre auffällig langen Wimpern am unteren Augenrand waren, lässt sich heute schwer nachvollziehen. Fakt ist, dass "Twiggy", wie sie fortan für die Modewelt hieß, anders war.
Die Schönheitsikonen der 1950er Jahre hatten lockige Löwenmähnen und auch sonst von allem ein bisschen zu viel: Busen, Po, Mund und Hüfte. Sophia Loren und Marilyn Monroe galten als unerreichbare Schönheitsköniginnen - doch nun kam Twiggy. Sie war nicht elegant, und sie war nicht mal besonders grazil, aber sie trug ihren dünnen Körper mit einer solchen Leichtigkeit zur Schau, dass plötzlich alle aussehen wollten wie sie.
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Bildergalerie:Dünn - Mini - Twiggy
Zu keiner anderen passte der Minirock besser als zur Ikone aller Topmodels, der unfassbar dürren Twiggy. Sehen Sie selbst.
Kein Busen? Macht nichts, dazu passen die neuen transparenten Oberteile auch viel besser. Kein Po? Kein Problem, damit passt man besser in den Minirock. Denn Twiggy hatte einen ganz entscheidenden Vorteil: Sie kam zur rechten Zeit. Die britische Modeschöpferin Mary Quandt hatte gerade den Minirock erfunden. Und wer hätte den bis dato kürzesten Rock der Welt besser auf die Laufstege der Welt bringen können als das Model mit den kürzesten Haaren und den dünnsten Beinen?
Nun war der typische Twiggy-Look vollendet: Bye-bye Busenwunder - die neue Kindfrau war geboren. Ein bisschen süß, ein bisschen frech, ein bisschen zu dünn, aber vor allem ein neuer Look, der wunderbar in eine Zeit passte, die sich ebenfalls von alten Zöpfen löste und eine neue Ära einläutete: die Swinging Sixties.
Bisherige Modediktate galten nicht mehr. Frauen mussten nicht mehr damenhaft sein. Knie wurden nicht mehr züchtig verhüllt, die Taille nicht mehr betont, die Haare mussten mit dem neuen Bubi-Kopf nicht mehr mit ziependen Lockenwicklern unter die Haube. Die Experimentierfreudigkeit war geboren - und mit ihr ein großes Stück Leichtigkeit gewonnen.
Selbstverständlich
Das swingende London wirbelte den bis dahin in Paris betonierten Chic tüchtig durcheinander: Models mussten nicht mehr stolzieren, sondern durften von nun an über die Laufstege tanzen. Die Modefotografie wurde bunter: Twiggy selbst wurde meist mit blass geschminktem Gesicht, schwarz umrandeten Augen, den typischen künstlichen Twiggy-Wimpern, die ihr Gesicht noch kindlicher erscheinen ließen, und natürlich im Mini fotografiert, der Oberkörper durch kurze Oberteile optisch verkürzt, die Beine durch den Minirock kunstvoll verlängert. Zur kindlichen, beziehungsweise jungfräulichen Silhouette trugen hohe Säume und weite Schnitte ohne Taillenführung maßgeblich bei.
Der androgyne Look eroberte die Swinging Sixties. Twiggy wurde zur "teuersten Bohnenstange der Welt" erklärt. Mit ihr feierte der Minirock seinen Einstand - nicht als sexy Beinverlängerungsmaßnahme, wie wir ihn heute kennen, sondern als freche Neuinterpretation von Bein- und Modefreiheit und als Individualisierungsmaßnahme für die bis dahin doch noch recht eingeschnürte Frau.
Heute kommt der Minirock als Accessoire zum taillierten Businesskostüm, als breiterer Gürtel zur Leggins, schlicht als Jeansrock zum T-Shirt und in letzter Zeit wieder als alltägliches Kleidungsstück in allen erdenklichen Farben und Formen daher.
Zu verdanken haben wir diese Selbstverständlichkeit neben seiner Schöpferin auch einem zierlichen Geschöpf mit seinem ganz eigenem Bubi-Kopf. Neben dieser großen Dürren wirken die Hungerhaken unserer Modeltage glatt wie farblose Klone - und müssen sich mit Skandälchen in der Regenbogenpresse über Wasser halten. Nichts für ungut, Kate, aber der Heroin-Look war schon erfunden.