Süddeutsche Zeitung

Die Probleme von Patchwork-Familien:Die Liebeslüge

Patchwork ist die Herausforderung, aus getrennten Familien neue Familien zu machen. Doch das vermeintliche Modell der Zukunft fordert viel mehr Opfer als gedacht.

Petra Steinberger

Fest der Liebe nennt es sich, aber in manchen Familien wird Weihnachten geplant wie die logistische Vorbereitung zu einem Großmanöver. Und dabei geht es nicht um die Details und Zutaten für den Braten. Es geht darum, wer wo mit wem wann die nächsten Tage verbringen wird, will und muss. Weihnachten mit Vater, Mutter, Kind - das kennen immer mehr Familien nur noch als nostalgisches Idyll aus den Erzählungen der Großeltern.

Feiertagsplanung wird zur logistischen Herausforderung

Diese Familien haben den modischen Namen Patchwork bekommen, und bei ihnen funktionieren die Feiertage etwa so: Am Weihnachtsabend feiern alle vier Kinder zusammen mit ihrem Vater Paul (alle Namen von der Redaktion verändert) und Carla, der Mutter der beiden jüngeren Geschwister. Am nächsten Tag setzt Paul die beiden großen bei ihrer echten Mutter Natalie ab, die im Nachbarort wohnt.

Die beiden Kleinen besuchen mit Paul und Carla die Eltern von Carla. Die Eltern von Paul hätten gern alle vier Enkel zusammen an Weihnachten gesehen, haben aber keinen Termin mehr bekommen, sie haben sich zu spät angemeldet. Denn am zweiten Weihnachtsfeiertag fahren die beiden großen mit Natalie zu deren Vater, ihrem Großvater Hans, der etwas weiter entfernt am Meer wohnt. Hans hätte auch gern Paul dabei gehabt, mit dem er immer zum Segeln gegangen ist, muss sich aber mit Thomas, einem Bergsteiger und dem neuen Mann von Natalie, begnügen. Aber da ist ja noch ein neuer winziger Enkel, das dritte Kind von Natalie, das der Großvater unbedingt sehen will.

Störend ist nur, das Thomas seine Tochter aus erster Ehe mitbringt, obwohl sie seit kurzem pubertiert und mit ihrer Stiefmutter Natalie und deren Kindern um die Aufmerksamkeit von Thomas konkurriert. Etwaige Tanten, Onkel, Schwäger müssen sich sowieso hinten anstellen. Bei vielen von ihnen ist die Feiertagsgestaltung allerdings ähnlich kompliziert.

Dennoch: Patchwork scheint zur gesellschaftlichen Normalität zu werden. Jeder hat inzwischen eine oder mehrere solche Familien im Bekanntenkreis. Und weil es Normalität geworden ist, muss es doch funktionieren. Oder es sollte zumindest funktionieren. Nur dass der Mensch in vielerlei Hinsicht ein eher rückständiges Wesen ist. Er mag sich nicht immer mit neuen gesellschaftlichen Formen, auch wenn sie als angemessen locker und cool befunden wurden, anfreunden.

Mit jeder neuen Patchwork-Familie entsteht ein weiteres Geflecht aus Bluts-, Wahl- und unfreiwilligen Verwandten, die miteinander auskommen müssen, weil zwei Menschen beschlossen haben, eine neue Beziehung einzugehen. Nichts mehr gehört für alle Zeiten zu etwas Bestimmtem, aber alle gehören einander. Familien gründen auf Liebe, heißt es. Und: Blutsverwandtschaft könne man sich nicht aussuchen.

Doch diese Bindung schafft natürlich auch eine Art Versicherung, einen Anker, vor allem für die Kinder, dass da hoffentlich immer jemand da sein wird, zu dem man sich flüchten kann.

Aber bei Patchwork-Familien enthüllt oft schon die Terminologie, die man in den Familien- und Beziehungsberatern findet, worum es geht: um Macht und um Liebe und um den Kampf darum. Manchmal geht es fast schon um Krieg. Um Minenfelder und Konfliktpotential. Um Verhandlungen und Rückzug und Grenzüberschreitungen. Um Eindringen und Überrollen und Waffenstillstand. Jeden Tag wieder und besonders an den Tagen, an denen man noch enger zusammenrücken soll, an denen Liebe eingefordert wird als Feiertagsaufgabe. Und viele neu zusammengewürfelte Familien überleben diesen Kampf nicht.

Inzwischen werden 50 Prozent aller in Deutschland geschlossenen Ehen innerhalb von sieben Jahren wieder geschieden, 200.000 Paare trennen sich jedes Jahr, und dabei werden nur die verheirateten Paare gezählt. Mehr als die Hälfte aller geschiedenen Mütter und Väter hat schon nach einem Jahr wieder einen neuen Partner. Es gibt allerdings keine genauen Zahlen, wie viele Kinder zumindest zeitweise in solchen Patchworkfamilien leben, das Statistische Bundesamt zählt in der Ehe nur die leiblichen Kinder. Nach Schätzungen erleben drei von zehn Kindern bis zu ihrem 18. Lebensjahr mindestens eine Patchwork-Konstellation.

Jan wollte es zuerst nicht an die große Glocke hängen. Er hat schlechte Erfahrungen gemacht. Aber dann erzählt er es Katrin doch, an ihrem ersten Abend, beim ersten Date - dass er zwei Kinder hat, und dass sie hauptsächlich bei ihm leben. Katrin findet Jan nett, er gefällt ihr, sie haben ähnliche Ansichten, es funkt.

Im Patchwork ist wenigstens einer schon einmal gescheitert

Katrin hatte zwar einmal ganz andere Träume, so wie die meisten Menschen. Dass sie irgendwann den Menschen treffen würde, der zu ihr passt. Den sie heiraten, mit dem sie Kinder haben und großziehen würde. Mit dem zusammen sie alt werden wollte. Es ist der uralte Traum von der eigenen Familie, ein reiner und unschuldiger Traum, der so tief im Menschen festgeschrieben ist, dass ihn auch gesellschaftliche Umbrüche nicht löschen können. Er ist ein Teil jener Phantasie, dass der Mensch sein ganzes Leben auf einem leeren Blatt Papier beginnen könne.

Die Realität von Patchwork ist das Gegenteil davon. Sie ist nicht neu und unschuldig, man kann sie nur noch bedingt selbst gestalten. Da soll eine neue Familie auf den Ruinen einer oder mehrerer vorangegangener Familien entstehen. Trümmer sind zurückgeblieben, sie können plötzlich und überraschend ein unvorsichtiges Familienmitglied verletzen. Auch nach Jahren noch. Denn im Patchwork tun sich Menschen zusammen, von denen wenigstens einer schon einmal gescheitert ist. Und das tragen sie mit sich herum.

Katrin hat eine lange Beziehung hinter sich, in der sie Kinder wollte, ihr Partner aber nicht. Das war dann auch einer der Gründe für die Trennung. Sie weiß also nur zu gut, dass der Traum so einfach nicht funktioniert. Aber weiß sie wirklich in diesen ersten Monaten mit Jan, was da auf sie zukommt? Beide verhalten sich vorbildlich, sie lassen den Kindern Zeit. Erst nach einem Jahr zieht Katrin zu Jan in das kleine Haus am Stadtrand von Düsseldorf ein. Da sind Jans Töchter fünf und neun Jahre alt.

Jan und Katrin machen eigentlich fast alles richtig. Sie haben ähnliche Vorstellungen, was die Erziehung der Kinder betrifft. Katrin ist sehr vorsichtig, was ihre Rolle gegenüber Jans Kindern betrifft. Sie mischt sich erst einmal nicht allzu viel ein, Jan hat es immerhin schon einige Jahre allein hinbekommen. Und auch mit der Mutter der Kinder geht es zunächst einigermaßen gut.

Marlene und Jan hatten sich getrennt, als die Mädchen zwei und sechs Jahre alt waren, vielleicht hatte sie die Mutterrolle satt, sagt Jan heute, oder sie konnte den täglichen Irrsinn aus Kindern und Haushalt einfach nicht mehr aushalten. Sie wollte wieder zurück in ihren Beruf als Grafikerin in einer großen Kölner Werbeagentur.

Jan wiederum wollte keiner von diesen Vätern werden, die ihre Kinder nur an jedem zweiten Wochenende sehen. Sie einigten sich. Marlene zog aus. Manchmal hörten die Kinder wochenlang nichts von ihr. Jan sagt: Sie pickte sich die Rosinen heraus. Die schöne Zeit. Den Spaß. Das ist nicht ungewöhnlich bei dem Elternteil, der geht, ungewöhnlich ist bei Jan und Marlene nur, dass es der Vater ist, der die Kinder großzieht. In 85 Prozent der Fälle bleiben die Kinder bei der Mutter.

Jan und Marlene sind also schon einige Jahre getrennt, als Katrin dazukommt. Und anfangs scheint Marlene die neue Frau auch zu akzeptieren. Vielleicht ist sie zunächst sogar froh. Jemand kümmert sich um die Kinder. Marlene scheint nicht eifersüchtig zu sein. Ist das also nun die perfekte Stieffamilie?

Denn so modern, wie viele Patchworker es gern darstellen, ist diese Form des Zusammenlebens nicht. Es ist letztlich die alte Stieffamilie, nur in moderneren Kleidern und ein wenig aufgemotzt. Aber das kann nur bedingt darüber hinwegtäuschen, dass dahinter noch immer alte Vorurteile und Realitäten überlebt haben. Und die sind zerstörerisch, vor allen Dingen, wenn sie nicht akzeptiert und angesprochen werden. Mehr als die Hälfte aller Patchworkfamilien gehen wieder in die Brüche.

Zwei Gründe machen Familienpsychologen für das Scheitern verantwortlich. Zum einen ist es sehr wichtig, wie die leiblichen Eltern die alte Beziehung verlassen und hinterlassen haben. Streiten sie, benutzen sie die Kinder, um sich am ehemaligen Partner zu rächen? Verlangen sie von den Kindern eine emotionale Entscheidung für oder gegen einen Elternteil? Hetzen sie gegen den alten Partner und dessen neue Frau, den neuen Mann? Oder haben sie es geschafft, zum Wohl der Kinder zumindest noch als Eltern eine gemeinsame Basis zu entwickeln?

Und da gibt es zum anderen diesen einen gefährlichen Satz: "Noch einmal ganz von vorne anfangen." Mit einer neuen Liebe wird ein neues Heim gegründet, und die bereits vorhandenen Kinder laufen schon irgendwie mit. Aber es gibt keinen Neubeginn mehr. Das ist für das neue Paar meist schwer zu ertragen und wird mit aufopfernder Liebe und autoritärem Erziehungsstil übertüncht.

Da gibt es dann diese Stiefväter, die ihrer neuen Lebenspartnerin erklären, dass nun ein paar neue Regeln und Pflichten aufgestellt werden müssen. Und das, obwohl diese Partnerin ihre Kinder jahrelang alleine über die Runden gebracht hat. Sie war dabei vielleicht nicht ganz so streng. Also stellt sie sich jetzt schützend vor ihre Kinder.

Und die Kinder reagieren vielleicht mit Trotz und Wut, weil sie jahrelang verbissen gegen jede neue Beziehung gekämpft haben, weil sie keinen Fremden bei sich dulden, der ihnen ihre Hoffnung wegnehmen könnte, dass die Eltern vielleicht doch eines Tages wieder zusammenkommen.

Der Münchner Familienpsychologe Hans Dusolt hat im Auftrag der Familiengerichte viele Gutachten erarbeitet, viele Kinder interviewt. Fast alle, sagt er, würden es vorziehen, wenn Mama und Papa zusammenblieben. Es muss schon ziemlich schlimm zugegangen sein, wenn Kinder das nicht mehr wollen.

Und so gibt es in der neuen Patchwork-Gesellschaft Kinder, die aggressiv werden und auffällig in der Schule, bis die Eltern verzweifelt in die Beratungsstellen kommen. Oder Kinder, die hinausgedrängt werden und hinausfallen aus der neuen Paarbeziehung. Aber das ist eher selten.

Meist sind es die neuen Partner, die erst einmal lernen müssen. Dass die Kinder immer an erster Stelle kommen. Das muss auch Katrin erst lernen, dass sie nicht die Einzige ist in der neuen Beziehung. Manchmal geht es nur um ein paar Stunden, nur um ein bisschen mehr Zeit allein mit Jan, ehe die beide Mädchen wieder zurückkommen von der Mutter.

Als sie diesen Wunsch einmal andeutet, kommt es sofort zum Streit, Jan geht in die Defensive, als ob er sich entscheiden müsse zwischen Katrin und seinen Kindern - und als ob sie genau das von ihm verlangen würde. Dabei meint sie es gar nicht so. Aber wie sagt man so etwas, ohne den anderen zu verletzen, ohne ihm das Gefühl zu geben, er könne sowieso keinem wirklich gerecht werden?

Oft sind es nicht die neuen Partner, die eine Patchworkbeziehung wieder verlassen, sondern die, die die Kinder mitgebracht haben.

Früher, als Patchworkfamilien noch Stieffamilien hießen, gab es diese eine Figur, die besonders schlecht wegkam: die Stiefmutter. Eigentlich existiert sie gar nicht ohne das Adjektiv "böse". Tiefenpsychologisch kann man sie als Ausdruck der dunklen Seite sehen, die jede Mutter in sich trägt. Und es gab die Frauen, die den Kindern aus der alten Ehe die Zuneigung ihres Mannes neideten oder die die eigenen Kinder an erster Stelle sehen wollten. Heute gibt es dafür einen neue Art Stiefmutter-Reflex.

In der Zeit zwischen Marlene und Katrin lernte Jan noch eine andere Frau kennen, die wollte es besonders gut und richtig machen mit den Kindern. Sie wollte die wahre Mutter sein, sie wollte erziehen und geliebt werden. Am Ende verlangte sie sogar, dass Jan der leiblichen Mutter das Sorgerecht entziehen und auf sie übertragen solle - als könnte man die Liebe von Kindern einfach per Gerichtsentscheid übertragen.

Wäre Jan mit ihr zusammengeblieben, wäre die Sache höchstwahrscheinlich nicht gut ausgegangen. Denn die Liebe, die übermäßige Liebe, mit der manche Frauen die angeheirateten Kinder überhäufen, wird sehr selten zurückkommen. Für Kinder gibt es nur eine echte Mutter. Das wissen die Kinder, und das muss auch den Erwachsenen immer bewusst bleiben. Frauen, die versuchen, die leibliche Mutter zu ersetzen, haben von Anfang an verloren.

Katrin und Jans Kinder bekommen genug Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen. Sie leben miteinander, lachen und lernen miteinander, respektieren sich. Sie mögen sich. Aber dann bekommt Katrin von Jan ein Kind. Oft ist es so, dass gemeinsame Kinder die Patchworkfamilien festigen. Katrin sagt heute, sie habe die Familie abrunden wollen, ganz machen. Doch es funktioniert nicht, diesmal nicht.

Für Patchwork-Familien gibt es keine Vorbilder

Die Mutter der beiden älteren Kinder beginnt sie aufzuhetzen gegen den schreienden Säugling, gegen die neue Mutter. Fast als ob sie jetzt, nach all diesen Jahren, entdeckt, dass sie selbst als Mutter zumindest für die kleinere der beiden Töchter nicht wirklich da war. Hat sie Schuldgefühle? Ist es das, was sie treibt, fragen sich Jan und Katrin, wenn die Kinder wieder einmal vom Besuch bei der Mutter zurückkommen, voller Zorn und Empörung und Hass auf das Baby und die andere Frau. Es brechen schlimme Zeiten an, es wird viel gekämpft und geschrien und geweint.

Das Schwierige an Patchworkfamilien ist, dass es keine Vorbilder für sie gibt. Jede ist in ihrer eigenen ganz besonderen Welt und Konstellation gefangen. Menschen verlieben sich und stolpern hinein wie Jan und Katrin, wie Paul und Carla, die Kinder stolpern mit, und eigentlich weiß keiner genau, wie man mit dem anderen umgehen muss. Es gibt keine Modelle, keine Konventionen, keine Rollen, an denen man sich orientieren könnte wie bei der herkömmlichen Kernfamilie. Wenn sie Glück haben, wie Jan und Katrin, schaffen sie es, mit schlechten und guten Phasen, mit viel Arbeit und Toleranz und Geduld und, ja, auch mit Liebe.

Denn nur weil Patchwork immer häufiger wird, heißt das nicht automatisch, dass diese Form des Zusammenlebens deshalb immer besser funktioniert. Zunehmende Häufigkeit bedeutet erst einmal gar nichts für die Qualität. Vielleicht ist es umgekehrt so, dass das fröhliche Leben im TV-Patchwork à la "Brady Bunch" dazu geführt hat, dass die alten Schwierigkeiten tabuisiert werden. Gerade weil man darüber reden kann, redet man nicht mehr darüber. Man schafft alles in der flexiblen Gesellschaft der Moderne, und wenn es verlangt wird, probiert man eben auch diverse Formen des Zusammenlebens einmal aus.

In Patchworkfamilien haben nicht alle Eltern alle Kinder gleich lieb, aber das dürfen sie oft nicht einmal vor sich selber zugeben. Manche, vor allem Frauen, brauchen Jahre, um die Lüge im eigenen Herzen zu entdecken. Dann müssen sie anfangen zu reden. Die Kinder werden es verstehen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.65154
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 24.12.2009/dog/bre
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.