Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Die Altersweisen:Kann Zeit alle Wunden heilen?

Lesezeit: 1 Min.

Ja, sagt Rotraud, 77. Wo früher Narben waren, sind heute Blüten. Kevin, 18, muss gerade oft an die Erdbebenopfer denken und glaubt nicht daran. Wie junge und alte Menschen die Welt sehen und erleben, erzählen sie in dieser Kolumne.

Protokolle von Niko Kappel

Kevin, 18, kommt aus Greifswald und engagiert sich in seiner Freizeit gegen den Klimawandel.

"Zeit kann Wunden vielleicht heilen, aber ich bezweifle, dass sie ganz verschlossen werden können. Es kommt auf die Schwere der Wunden an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Trauma wie eine Flucht vollständig geheilt werden kann. Ich denke gerade viel an die Menschen, die in der Türkei, in Syrien und in Kurdistan ihr Zuhause und ihre Mitmenschen verloren haben. Ich glaube, solche Wunden sind einfach zu tief. Sie heilen nicht, auch nicht nach Jahrzehnten.

So schlimme Dinge habe ich zum Glück noch nicht erlebt. Aber ich wurde in meiner Kindheit gemobbt. Diese Wunde ist zum Glück ganz gut verheilt. Trotzdem habe ich das noch nicht überwunden. Ich denke also nicht, dass Zeit alle Wunden heilen kann. Aber ich glaube, dass sich Menschen mit ihren Narben wohler fühlen, wenn sie merken, dass sie nicht allein sind. Mir hat es geholfen, mit anderen Betroffenen über Mobbing zu sprechen. Da habe ich gelernt, dass ich besser mit meinen Narben leben kann, wenn ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin."

Rotraud, 77, lebt in Berlin und arbeitet als freie Künstlerin.

"Ich bin geschieden. Das hat mich sehr geschmerzt, über Jahre. Aber heute sind diese Wunden weg. Es gibt nicht mal Narben, nur Blüten! Ich konnte sogar einen Brief an meinen ersten Mann schreiben und ihm sagen, wie viel Glück mir diese Trennung gebracht hat. Inzwischen sieht er das genauso. Wir haben beide neue Partner gefunden. Ein neues Leben. Heute sind wir Freunde. Unser Kind und die Halbgeschwister verstehen sich super.

Deshalb kann ich aus meiner Erfahrung sagen, dass Zeit alle Wunden heilen kann. Früher hat es mich zum Beispiel sehr verletzt, wenn mich jemand übersehen hat. Es wurmte mich, wenn Menschen keine Rücksicht auf mich nahmen. Da habe ich mich oft machtlos gefühlt. Heute ist mir das egal. Ich sehe den großen Zusammenhang. Nicht mehr den Schmerz.

Mit Abstand kann man die Dinge viel besser einordnen. Wenn ich jetzt mal übersehen werde, weiß ich, dass das Verhalten anderer doch gar nicht so wichtig ist. Es ist egal, wie mich andere Menschen sehen. Wichtig ist, wie ich mich selbst sehe."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen für 0,99 € zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5752708
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.