Süddeutsche Zeitung

Deutschlandreise:Ein Traum von einem Fluss

Der römische Dichter Ausonius besingt im Jahr 371 die Herrlichkeit der Mosel - ahnungslos, wie nahe der Untergang des Imperiums ist.

Von Gianna Niewel

Die Runde beim Junggesellinnenabschied singt, und die älteren Ehepaare schauen auf den Boden, als wollten sie sich verstecken. Ist nicht Sonntag heute? Haben sie sich nicht Ruhe gewünscht? Beilstein an der Mosel, 140 Einwohner, beste Voraussetzungen. Eigentlich. Die Häuser im Ort: Hotels, Restaurants, Hotelrestaurants. Wilder Wein rankt an Fachwerkfassaden. In den Läden Postkarten, Moselführer, die Tierkreiszeichen aus Lapislazuli und Malachit. Es ist herrlich hier, die kopfsteingepflasterten Gassen, die Begonien in den Fensterläden, aber natürlich ist es auch herrlich kitschig. Und weil es sonst nicht viel zu tun gibt, wenn man gegessen hat und Postkarten gekauft und die Burg besichtigt, stehen sie nun also gemeinsam am Ufer der Mosel, bereit für eine Schiffstour. Der Junggesellinnenabschied. Und die Rentner.

An ihnen vorbei läuft Martin Kolb, schwarze Hose, weißes Hemd, und öffnet das Gitter zum Steg, dort liegt die Stadt Zell, 45 Meter lang, knapp acht Meter breit. Der Junggesellinnenabschied steigt ein, die Rentner steigen ein, Martin Kolb hinterher. Er nimmt die schmale Treppe an Deck, setzt sich auf eine der Holzbänke, Steuerbord, und bestellt erst einmal eine trockene Weinschorle. Unten surren die Motoren, ein Matrose löst die Taue von den Pollern, das Schiff legt ab.

Es ist Martin Kolbs Schiff. Schon der Opa ist auf der Mosel geschippert, aber der Fluss, das kann man so sagen, hat auch sein Leben bestimmt. Martin Kolb hat die Brühe geschluckt, ehe er in ihr schwimmen lernte. Mit 14 Jahren stand er auf einer umgedrehten Weinkiste, der Bruder im Rücken, vor ihm das Steuerrad, die Hände zitterten, er lenkte zum ersten Mal. Martin Kolb war Schiffsjunge, Decksmann, Matrose, Matrosenmotorwacht, dann Steuermann und Schiffsführer. Es hat sich so ergeben, sagt er, ganz so, als hätte er sich nicht dafür entschieden, als habe er sich das nicht gerne ausgesucht. Heute ist er 62 Jahre alt und ihm gehört "Gebrüder Kolb". 21 Schiffe, die Autofähre St. Joseph, das Wappen: zwei grüne K's auf weißem Grund. Es ist das größte private Binnenfahrgast-Schifffahrtsunternehmen Deutschlands, sagt Martin Kolb, der nun also Binnenfahrgast-Schifffahrtsunternehmer ist.

Als Chef fährt er nur noch selten selbst, viel Büroarbeit, er plant die Touren. Und natürlich könnte er planen, dass seine Schiffe auch bis nach Frankreich fahren oder den Rhein entlang. Will er aber nicht. Der Rhein ist schon genug befahren und Frankreich, was soll er da? "Ich bin ein Moselkind", sagt er.

Doch nicht nur er ist dem Fluss treu geblieben. Seine drei Schwestern servieren Schwarzwälder Kirsch und Kaffee im Kännchen an Deck seiner Schiffe, die Moselprinzessin heißen oder Romantica, er hat sie angestellt. Seine vier Brüder steuern die Ausflugsboote: von Cochem nach Beilstein, von Trier nach Bernkastel-Kues, von Ostern bis Oktober. Immer diesen einen Fluss entlang, Staustufe, Fankel, Kilometer 59,38, Staustufe Enkirch, Kilometer 103,01, Staustufe Trier, Kilometer 195,76. Auch sie sind Moselkinder.

Die Faszination für Wasser mag in der Familie liegen, sagt Martin Kolb. Aber auch die "Mosella" habe ihn geprägt, ein Gedicht, dass er in der Schule so oft las, dass er es noch immer nicht ganz vergessen hat. Salve, amnis, "sei gegrüßt, Strom". Der römische Dichter Ausonius reist darin die Mosel entlang, gegen die Flussrichtung, bis nach Trier. Seine "Mosella", 483 Verse, ist das mutmaßlich einzige antike Gedicht, das sich nur mit einem Fluss beschäftigt, mit den "lieblichen Fluten, die murmelnd unten dahinströmen". So würde das heute niemand mehr sagen. Aber wer mit Martin Kolb über die Mosel fährt, der weiß auch Jahrtausende später noch, was Ausonius im Jahr 371 gemeint hat.

Ausonius schreibt: "Man sieht durch deinen glatten Spiegel hinab, Strom, der kein Geheimnis kennt". Die Mosel heute: klares Wasser, Kiesel am Grund.

Ausonius schwärmt von "Felsen, besonnten Hügeln, Biegungen und Buchten, zu einem Naturtheater aufsteigend". Die Mosel heute: Felsen, Hügel, der Fluss windet sich. Naturtheater.

Ausonius beschreibt "Villen am blauen Wasser in langer Reihe". Die Mosel heute: Die schönsten Häuser blicken direkt zum Fluss, breite Fensterfront, Balkon mit einer Balustrade aus weißem Stuck.

Von 500 vor Christus an siedelten die Kelten am Ufer des Flusses, dann kamen die Römer, sie nannten ihn Mosella, "der kleinere Fluss östlich der Maas". Als ein Teil der Maas versickerte, verlor die Mosella ihren verniedlichenden Namen und wurde zur Mosel. Und über die verschifften die Römer ihren Schiefer, sie war ein wichtiger Transportweg Richtung germanische Grenze, 544 Kilometer Fließstrecke.

302 Kilometer von der Quelle in den französischen Vogesen bis ins Dreiländereck, bis nach Schengen und Perl. Die Franzosen sagen: "la Moselle". 36 Kilometer zwischen Deutschland und Luxemburg entlang. Die Luxemburger sagen: "Musel". 206 Kilometer trennt die Mosel dann Eifel und Hunsrück, bis ans Deutsche Eck bei Koblenz. Hier fließt sie in den Rhein, den so heroischen Fluss, von französischen und deutschen Soldaten umkämpft, von Dichtern verehrt, "lieb' Vaterland magst ruhig sein / Fest steht und treu die Wacht am Rhein". Die Mosel aber ist nur ein Arm des Rheins. Im besten Fall. Im schlechten Fall weiß den Fluss und seine Kulturlandschaft kaum jemand zu verorten.

Burgen und Schlösser? Deswegen sind die jungen Frauen nicht an Bord der Stadt Zell, zumindest nicht an diesem Nachmittag. Birgit - das steht auf ihrer Schärpe - bindet sich einen Bauchladen aus Korbgeflecht um, "Verhüterli", ein Euro, kleine Flaschen "Ficken und Lecken", zwei Euro. Die "Braut-Security" - das steht auf den Schärpen der anderen Frauen - grölt, da muss Birgit jetzt durch, sie richtet ihr Diadem aus Plastik, sie stolpert los. Kondome und Schnaps? Die Rentner schauen nach draußen. So ruhig der Fluss, so imposant die Weinberge.

Die Mosel und ihr Wein, davon schreibt schon Ausonius. Er lobt die "rebgrünen Hügel", "Bacchus Gaben", dann die "Flussnymphe Panope, die mitten in Hügeln Trauben naschte". 50 vor Christus eroberten römische Legionen das Moselland von den Kelten, etwa 17 vor Christus gründeten die Römer dann Trier, das damals Augusta Treverorum hieß, "die Stadt des Augustus im Land der Treverer". Schnell wuchs die Stadt, Amphitheater, Konstantinbasilika, Barbaratherme, mit schätzungsweise 70 000 Einwohnern war sie das, was wir heute Metropole nennen würden.

Die Stadt wurde bedeutsam und mit ihr der Fluss. Die Einwohner wollten nicht nur beschützt werden, sondern auch versorgt. Die dia Mosella, die göttliche Mosel - sie nährte sie. Sie aßen Spargel und Spatzen, alles lieferten Schiffe. Sie tranken Wein, den sie vor der Stadt und vor ihren Siedlungen anbauten, den Fluss entlang. "Selbst der Tiber wagte es nicht, seinen Ruhm über deinen zu stellen", schreibt Ausonius 371.

"Man sieht durch deinen glatten Spiegel hinab, Strom, der kein Geheimnis kennt."

Und der Riesling wuchs ja auch gut hier, wegen des Bodens, Schiefer, Muschelkalk und roter Lehm, und wegen des milden Klimas. Calidus mons nannten die Römer einen ihrer Höhenzüge an der Mosel, warmer Berg. Noch heute ist der Calmont eine sehr gute Lage, im Sommer wärmt die Sonne die Trauben, er gilt als einer der steilsten Weinberge Europas, 68 Grad. Wer an seinem Fuß steht, sieht eine Wand aus Rebstöcken. Wer auf ihn steigt, braucht feste Schuhe.

Ohne dass Ausonius es ahnte, ist die "Mosella" auch ein Abgesang auf eine versinkende Welt. Die Völkerwanderung ist zu seiner Zeit bereits zu spüren, 406 wird die Rheingrenze kollabieren. Von Ausonius' Glück wird wenig bleiben - außer seinem Gedicht.

Die Mosel und der Wein, damit hat sich nicht nur Ausonius beschäftigt. Goethe nahm 1792 auf dem Rückweg von seiner "Kampagne in Frankreich" den Schlenker über den Fluss, er schreibt: "Wir genossen des köstlichsten Moselweins." Bei Kurt Tucholsky heißt es 1930 in einem Reisebericht: "Wir soffen uns langsam den Fluss hinab." Heute wachsen hier die Trauben für den Ürziger Würzgarten oder die Zeltinger Sonnenuhr, Weine, die Sommeliers in Fachzeitschriften loben, ihre Säurestruktur, ihre Bitternote.

Die Stadt Zell schippert an Cochem vorbei, Martin Kolb zeigt hier die Reichsburg, dort die Burgruine Winneberg, dann dahinten die Pestkapelle. Ein Panorama aus Steinen. Davor Familien, die Kinder schlecken Eis, die Eltern studieren Faltkarten. Das Schiff legt an, kurze Pause, einige Passagiere steigen aus, auch der Junggesellinnenabschied, neue steigen zu. Die Stadt Zell hat Platz für 250 Menschen, voll ist es nicht, an diesem Sonntagnachmittag auf Oberdeck und Unterdeck.

Nach dem Krieg mag es en vogue gewesen sein, mit Fährschiffen übers Mittelmeer zu fahren, mit Passagierschiffen auf der Donau, dann den Rhein entlang. Heute, sagt Kolb, scheint es, als hätten die Deutschen ihre Flüsse vergessen. Der Fluss gilt als Wirtschaftsraum, er wurde ausgebaggert oder begradigt, auf ihm werden Kohle und Erz verfrachtet. Wir mögen im Sommer am Ufer des Mains liegen und mit Schlauchbooten über die Isar paddeln, aber wer jung ist und entschleunigen will, der schippert kaum mehrere Tage oder auch nur mehrere Stunden mit zehn Knoten von Staustufe zu Staustufe und genießt das Idyll. "Schade eigentlich" sagt Martin Kolb, der gerne von Staustufe zu Staustufe fährt und dabei zur Ruhe kommt.

Sicher, Ausonius mag übertrieben haben, als er die Mosel "als ebenbürtig dem Meer" pries, als er von "flussbewohnenden Delphinen" schrieb und Welse meinte. Auch seine Bergnymphen kann man lange suchen. "Aber ganz falsch lag er nicht", sagt Martin Kolb, "es ist schon schön hier." Die Mosel punktet mit ihrer Geschichte, mit ihrem Riesling, den Wanderwegen durch die Weinberge, die hier nur Wingerte heißen. Die New York Times kürte die Region zu den "52 places to go in 2016". Es war das einzige deutsche Reiseziel auf der Liste, "Mosel Wine Country", auf Augenhöhe katapultiert mit Rhode Island, Abu Dhabi und der Karibikinsel Guadeloupe. Ein Freund rief Martin Kolb damals an und sagte: "Haste schon gesehen?" Kolb sagte: "Was?" Na, die Mosel! Doch es ist nicht nur er, der sich dagegenstemmt, dass der Fluss vergessen wird, so tief im Westen, politisch unbedeutend.

Den ganzen Sommer über, bis in den Oktober hinein, belebt das Moselmusikfestival die Orte entlang des Flusses, den Rittersaal von Schloss Veldenz, Weingüter, Kirchen. Solisten und Orchester, Kammermusik und Swing, Musiker von Weltrang. Dann werden die alten Ruinen des Klosters Stuben ausgeleuchtet, mit Stühlen versehen und von Hornbläsern bespielt, im Anschluss ein Feuerwerk über dem Fluss, Blick auf die Steilhänge.

Mal an die Mosel fahren - wäre das nicht auch etwas für uns?

Kolb hat sich auf seiner Stadt Zell gegen Bach und Händel entschieden, aus den Boxen dudeln AC/DC und "Hit me, baby, one more time" von Britney Spears, für jeden etwas. Es ist früher Abend, der Schiffsführer drosselt das Tempo, die Mosel windet sich in eine Kurve, Beilstein. Martin Kolb schaut den Ort an und strahlt, als sehe er das alles zum ersten Mal, die Burg, die Klosterkirche, den Fluss. Die Stadt Zell legt an, ein Matrose schlingt die Taue um die Poller, ein älteres Ehepaar, er im karierten Hemd, steigt vor Martin Kolb aus.

Am Morgen sind sie mit Elektro-Fahrrädern gefahren auf Wegen, die früher einmal Treidelpfade waren. Am Nachmittag die Schiffstour. Sie wohnen in Bremen, die Frau hat im Frühjahr eine Werbung in der Zeitung gesehen, wär' das nicht was für uns? Der Mann sagt, dass sie zum ersten Mal hier sind, aber nicht zum letzten und dass sie jetzt noch etwas essen wollen. Martin Kolb zeigt ihnen eine Übersichtskarte des Ortes. Oben die Adressen von Restaurants und Gaststätten, unten ein Bild, verwaschene Farben.

William Turner hat Beilstein einmal gemalt, im 19. Jahrhundert, das Original hängt im Tate Museum in London. Die Burg, die Klosterkirche, der Fluss. Manche Dinge ändern sich nie.

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Quelle:
SZ vom 29.07.2017
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