Die Morde in Berlin, der Axt-Attentäter in Würzburg, ein Junge, der einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Ludwigshafen plante - der Gedanke liegt den Deutschen nah: Was ist nur aus unserer Welt geworden? Gegen diese Erschütterung hilft Statistik nicht viel, gegen Emotionen kommt sie kaum an. Auch wenn es sehr viel wahrscheinlicher ist, in Deutschland Opfer eines Verkehrsunfalls als eines Attentats zu werden, wächst die Angst mit der Erkenntnis: "Das hätte jeden treffen können. Auch mich." Nicht nur die tatsächlichen Opfer sind im Fokus der Mörder. Die Terroristen verletzen das Vertrauen, gemeinsam in Sicherheit zu leben.
Kann ich also überhaupt noch auf einen Weihnachtsmarkt gehen, auf die Silvester-Partymeile oder mit der U-Bahn fahren? Jeder entscheidet selbst, wie sehr er das eigene Leben jetzt aus Furcht eingeschränken will. Letztlich liegt die Wahrscheinlichkeit zu sterben für jeden von uns bei hundert Prozent - Einfluss haben wir nur darauf, wie wir unser Dasein gestalten.
Die reale Gefahr für alle besteht darin, dass die Taten der Mörder Narben hinterlassen. Dass wir nicht nur unseren Blick auf Alltagssituationen verändern, sondern auf die Menschen um uns herum. Dabei ist egal, wer den Anschlag verübt hat: Angst macht meist, was fremd ist - beziehungsweise was auf den ersten Blick fremd erscheint.
Angela Merkel sagte am Tag nach dem Attentat in Berlin: "Wir wollen nicht damit leben, dass uns die Angst vor dem Bösen lähmt. Wir werden die Kraft finden für das Leben, wie wir es in Deutschland leben wollen: frei, miteinander und offen."
Doch was, wenn die Wut und die Angst nach den Anschlägen immer wieder aufflackern und uns argwöhnisch machen?
Auge um Auge und Vorverurteilung hat die Welt noch nie besser gemacht. Und sie wird es bestimmt nicht, wenn wir selbst uns schlechter machen: Wenn wir nicht mehr Menschen sehen, sondern potentielle Mörder. Für alle unsere Mitmenschen gilt die Unschuldsvermutung, solange sie nicht das Gegenteil beweisen.
Wir müssen uns also nicht nur fragen, wohin können wir eigentlich noch gehen; sondern viel wichtiger: Wer wollen wir sein?
Wollen wir zu denen gehören, bei denen Unbekanntes nicht Neugier weckt, sondern furchtsame Ablehnung? Dann würden wir in Menschen mit dunkler Haut, schwarzem Bart, mit Kopftuch und Rucksack potentielle Feinde sehen, zu denen wir auch dann auf Abstand bleiben, wenn neben ihnen der letzte freie Sitzplatz ist. Und uns so um nette Gespräche, neue Erfahrungen und Einblicke (oder einfach nur um gemütliches Sitzen) bringen.
Wie gelingt es uns aber, die Wunden im Kopf ohne Narben heilen zu lassen? Indem wir uns bewusst machen: Garantierte Sicherheit durch Regeln und Polizeipräsenz war und ist eine Illusion. Real und von jedem beeinflussbar ist aber unser Zusammenleben. Wie wir dieses gestalten, liegt an jedem Einzelnen: Nur eine Kultur des Hinschauens, des Zuhörens, des Helfens trägt zur Sicherheit in der Gemeinschaft bei, nicht nur im Notfall.
Es ist bequem, Feindbilder nicht zu hinterfragen
Sich zuständig zu fühlen und daher Verantwortung zu übernehmen, das fängt schon im Kleinen an. Wer sich über Werbeblätter oder leere Dosen auf U-Bahnsitzen ärgert, könnte das Vermüllen des öffentlichen Raums beklagen. Oder er kann den Abfall beim Aussteigen mitnehmen und wegwerfen. Obwohl er ihn da ja gar nicht liegen gelassen hatte! Verrückt, oder? Und so einfach.
Und wer merkt, dass er mit Unbehagen auf fremde Menschen aus fremden Kulturen reagiert, könnte sich auf dieser Angst ausruhen: Klare Feindbilder sind bequem. Oder aber, er könnte den ersten Schritt tun - und etwa bei einem Treffen der Flüchtlingshilfe leibhaftigen Asylsuchenden begegnen. Mit Namen und Schicksalen und einem wahren Expertenwissen für deren Kulturen. So könnte er gleich dafür sorgen, dass unsere eigene Willkommenskultur nicht auf euphorische Momente an Bahnhöfen und auf Monate der Nothilfe beschränkt bleibt. Sondern Bestand hat - selbst dann, wenn Fanatiker wieder die Freiheit in unseren Köpfen angreifen.
Das soll nicht bedeuten, die Augen fest zu verschließen und so zu tun, als würde niemals jemand Böses im Sinn haben. Generell sollte man seine Umgebung mit einer gesunden Aufmerksamkeit bedenken. Etwa in der S-Bahn. Dann bekommt man nicht nur mit, ob ein gestresst aussehender Passagier seinen Koffer stehenlässt und davon hetzt. Sondern auch, ob sich eine alte Dame kaum noch auf den Beinen halten kann. Oder ob sich eine Gruppe Halbstarker - ob mit oder ohne Haare - um ein mögliches Opfer schart - ob Mann oder Frau, mit oder ohne Kopftuch.
Wer wegschaut, hilft den Terroristen
Wer dann aber sagt, das geht mich doch nichts an, der kann auch seine Teilnahme an Weihnachtsmärkten und anderen Festen absagen - er wird in der Gemeinschaft nicht fehlen. Denn Teil davon zu sein, bedeutet, aufeinander zu schauen. Und das offen, ohne Hass im Herzen, ohne andere mit Feindbildern zu verschleiern, so dass die Menschen dahinter nicht mehr zu sehen sind.
Genau das machen Hetzer, sei es im Social Web, im Verein oder am Familientisch. Damit verschlimmern sie die Wunden, die Terroristen geschlagen hatten. Ihnen zu widersprechen, nicht stumm zu bleiben, wenn andere angegriffen und ausgegrenzt werden, ist notwendig für die Freiheit unserer Gemeinschaft.
Nur wenn wir uns wirklich zuständig und verantwortlich füreinander fühlen, werden wir unser Land, unsere Stadt, unser Viertel als Ort behalten, in dem wir gerne leben.
Was aus der Welt also geworden sein wird? Es liegt an uns.