Süddeutsche Zeitung

Soziologe über Sprachwandel:"Alle sprechen deutsch"

In Familien mit Migrationshintergrund wird nach Angaben des Statistischen Bundesamts immer häufiger deutsch gesprochen. Ein Soziologe erklärt, woran das liegt.

Von Alexandra Dehe

Laut den neusten Zahlen, die das Statistischen Bundesamt am Dienstag veröffentlicht hat, wird in Familien, in denen mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde, immer häufiger überwiegend deutsch gesprochen. Hans-Joachim Roth ist Professor am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität in Köln und erklärt, warum der Anstieg alles andere als überraschend ist.

SZ: Herr Roth, im Jahr 2018 wurde in Deutschland in 63 Prozent der Haushalte, in denen mindestens eine Person einen Migrationshintergrund hat, überwiegend deutsch gesprochen. Das sind sieben Prozent mehr als noch im Vorjahr. Wie schätzen Sie den Anstieg ein?

Für mich ist das nicht erstaunlich. Die eingewanderten Generationen aus den fünfziger bis siebziger Jahren sind immer älter geworden und heute sprechen viele Menschen, die hier leben, oft nur noch mit ihren Großeltern ihre Muttersprache. Die leben dann meist entweder noch in den Herkunftsländern oder haben die deutsche Sprache fast überhaupt nicht angenommen. Wir haben bei allen Untersuchungen festgestellt, dass gerade bei der Großeltern-Generation noch am häufigsten in der Herkunftssprache gesprochen wird.

Womit hängt die Steigung noch zusammen?

Mit der Größe der Sprachminderheiten. Kleine Sprachgemeinschaften gehen sowieso schnell zum Deutschen über, weil sie keine enge Community haben, die sie pflegen können. Allerdings beobachten wir heute oft eine "transnationale Migration". Das bedeutet, dass Familien über mehrere Länder verteilt leben. Das hat sehr stark zugenommen und da kann die Herkunftssprache ein verbindendes Glied sein. Aber auch politische Aspekte spielen bei der Steigung eine Rolle.

Inwiefern?

Rückkehrmotive - je klarer den Menschen ist, dass sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren und je emotionaler sie sich zum neuen Land zugehörig fühlen, desto mehr Wert wird daraufgelegt, die neue Sprache zu lernen. Das lässt sich seit Jahren beobachten.

Wie ist das bei Deutschen, die ins Ausland auswandern? Wird da nicht hauptsächlich die Muttersprache innerhalb der Familie gesprochen?

Es gibt einen klassischen Drei-Generationen-Zyklus, oder auch die alte "Melting Pot Theorie". Das bedeutet: Die erste Generation kommt in dem Land an, behält ihre Herkunftssprache bei und orientiert sich erst einmal. Die zweite Generation nimmt die neue Sprache auf und die dritte Generation lebt bereits fest verwurzelt in dem jeweiligen Land und greift aus einer solchen Situation auf herkunftsbedingte Elemente, wie auch die Sprache, zurück. Das ist eine klassische Theorie, nach der die Identitätsfindung funktioniert.

Und wie verhält es sich mit der vierten und fünften Generation?

Die Schwäche der Theorie ist, dass die Generationen danach nicht mehr erfasst werden. Der alte Glaube, das Sprachminderheiten irgendwann ganz zum Deutschen übergehen und ihre Herkunftssprache aufgeben ist allerdings nicht der Fall. Das Deutsch für viele aber immer mehr zur Alltagssprache wird, lässt sich beobachten. Jedoch heißt das nicht, dass die Herkunftssprache abnimmt. Der Übergang zum Deutschen hängt nach den bisherigen Befragungen und Studien auch sehr stark damit zusammen, dass die Eltern aus eingewanderten Familien sehr viel Wert darauflegen, dass ihre Kinder Deutsch lernen, weil sie wissen, dass die Chancen in der Gesellschaft und im Beruf so viel größer sind.

Gibt es denn Kulturen, in denen die Herkunftssprache noch eine bedeutende Rolle spielt?

Ja, die gibt es auch. Wenn wir uns zum Beispiel inländische Minderheit anschauen wie die sorbische Bevölkerung in Sachsen. Da spielt die Religion in Zusammenhang mit dem Sorbischen eine große Rolle. Diesen Zusammenhang von Religion und Sprache finden wir auch bei eingewanderten Minderheiten. Aber je länger die Menschen in einem Land leben, desto mehr nehmen die Gelegenheiten ab, die Herkunftssprache zu verwenden und dadurch steigt diese Zahl an.

Wenn immer mehr Deutsch gesprochen wird, wie kann es dann sein, dass manche Menschen schon vor 20 oder 30 Jahren eingewandert sind und trotzdem noch Schwierigkeiten damit haben?

Wichtig ist, am Arbeitsplatz Deutsch zu sprechen, sonst fällt ein großer Bereich aus, indem man die Sprache im Alltag sozialisiert lernen kann. Wenn das nicht der Fall ist, beherrschen viele die Sprache nur soweit, dass sie damit durchkommen. Und dann stellt sich für diese Menschen auch die Frage: Brauch ich das überhaupt? Wird sind, was Sprache angeht, total ökonomisch und lernen nur das, was wir brauchen. Das können wir auch immer bei unseren Fremdsprachen-Fähigkeiten sehen, die wir in der Schule lernen und danach vergessen. Das tun wir, weil sie im Alltag einfach keine Rolle für uns spielen.

Es gibt politische Strömungen, wie beispielsweise die AfD, die eher das Gefühl vermitteln, die deutsche Sprache werde zurückgedrängt? Wie sehen Sie das?

Das ist Quatsch. Alle sprechen deutsch. Diese These gibt es schon länger, beispielsweise auch mit der Forderung verbunden, dass Deutsch als Sprache im Grundgesetz verankert werden soll. Das ist meiner Meinung nach eine merkwürdige Haltung, weil sie suggeriert, dass das Deutsche so schwach und schlecht verbreitet sei, dass man es schützen muss. Defacto ist Deutsch hier die Standardsprache und da zweifelt auch niemand dran. Auch diese "Angst", dass das Englische in unserem Land überhandnimmt, ist unbegründet.

Auch wenn es immer mehr Anglizismen in unserer Sprache gibt?

Ja. Früher gab es dafür Latinismen. Wenn jemand eine Rede gehalten hat, dann wurde beispielsweise gesagt: "Ich geh jetzt medias in res". Das haben Menschen gemacht, um damit auszudrücken, dass sie gebildet sind. Heute wird das mit englischen Ausdrücken gemacht und hat die gleiche Funktion.

Wo lässt sich der Anstieg von Deutsch, als überwiegend gesprochene Sprache, noch beobachten?

Die Pisa Studien zeigen, dass die Leseleistung von Schülern, die zuhause eine andere Sprache als Deutsch sprechen, in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen ist. Allein von 2000 bis 2012 um fast 100 Punkte. Auch hier sehen wir eine Entwicklung, die sehr gut zu den Daten des Statistischen Bundesamts passt. Denn die Lesekompetenz spiegelt die Sprachkompetenz wider. Wenn das über die Generationen hinweg ansteigt, dann muss man davon ausgehen, dass dieser Wert, die 63 Prozent, in den nächsten Jahren weiter ansteigen wird.

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