Desolate Jugend:"Meine Geburt war verantwortungslos"

Desolate Jugend: Hanna Frey: Ich schrieb all meine Emotionen und Erinnerungen auf Zettel, diese legte ich in eine Schachtel und vergrub sie unter einem Baum

Hanna Frey: Ich schrieb all meine Emotionen und Erinnerungen auf Zettel, diese legte ich in eine Schachtel und vergrub sie unter einem Baum

(Foto: SZ.de)

Die Jugend von Hanna Frey ist von Gewalt, Leid und Angst geprägt. Einen Ausweg findet sie erst, als sie selbst Mutter wird.

Im Mai 1969 werde ich als sechstes und letztes Kind meiner Eltern geboren. Ich weiß nicht, ob meiner Geburt lediglich eine Verhütungspanne oder einfach nur Gedankenlosigkeit zugrunde liegt. Jedenfalls war sie verantwortungslos. Meine Geburt bringt mich in eine Familie, die von Elend, Gewalt, Dreck, Hunger und sexuellem Missbrauch geprägt ist.

Als ich geboren werde, ist die Ehe meiner Eltern bereits zerrüttet. Meine Mutter liebt viele Männer, nur nicht ihren eigenen. Ihre Kinder sind ihr lästig, ein Klotz am Bein auf ihren Streifzügen durch die Kneipen meiner Heimatstadt. Sie ist süchtig nach Vergnügen und süchtig nach Anerkennung anderer Männer. Manchmal kommt sie tagelang nicht nach Hause. Niemand weiß, wo sie sich aufhält.

Mein Vater ist dem Alkohol verfallen. Trotzdem versucht er diese Familie, die lange schon keine mehr ist, irgendwie zusammenzuhalten. Schon morgens bestimmt ihn seine Sucht. Nur langsam beruhigt sich das Zittern seiner Hände nach der ersten Flasche Bier. Der blaue Dunst seiner Zigaretten verwischt den Geruch von Alkohol, Urin und Erbrochenem in unserer Wohnung.

Schläge mit dem Gürtel

"Hat das Schwein wieder ins Bett gepisst?" höre ich meine Mutter schon am Morgen wüten. Ich liege dabei im Bett meiner Eltern, ein eigenes habe ich nicht. Ich bin etwa fünf Jahre alt und weiß, was jetzt kommt. Gleich wird sie zur Schublade greifen, in der eigens dafür ein Ledergürtel liegt. Während ich mir meine Decke über den Kopf ziehe, holt sie meinen neunjährigen Bruder aus seinem Zimmer.

"Nein, bitte nicht, Mama", schreit mein Bruder. Doch sein Flehen erweicht sie nicht. Er ist vier Jahre älter, vier Jahre längeres Leiden in dieser Familie. Jede Nacht pinkelt er ins Bett. In der Früh wird er so lange mit Mutters Gürtel verprügelt, bis sein Po wund ist. Dann schickt sie ihn zurück in sein nasses Bett.

Meine Mutter ist süchtig nach Tabletten. Sie schluckt alles, was ihr in die Hände fällt. Wenn mein Vater auf Entzug ist, lädt sie sich fremde Männer ein und feiert mit ihnen Sexpartys im Wohnzimmer. Manchmal muss auch ich anwesend sein und mit meinen vielleicht vier Jahren an ihren Fingern riechen, die sie sich zuvor in ihre Scheide steckte. Das trägt zur allgemeinen Belustigung bei. Ich bin ein gutes Opfer ihrer unsäglichen Machenschaften.

Das also ist mein Zuhause, in das ich geboren werde.

Irgendwann schaltet sich das Jugendamt ein. Informiert durch die Polizei, die einschritt, wenn mein Vater meine Mutter mal wieder so heftig verprügelt, dass ihre Schreie über die Straße dringen.

Mein zweites Leben im Kinderheim und in einer Pflegefamilie

Desolate Jugend: Hanna Frey: Das Erlebte zeigte mir die Chancen, es besser zu machen! Es lehrte mich vor allem, dass Verzeihen Frieden schließen heißt

Hanna Frey: Das Erlebte zeigte mir die Chancen, es besser zu machen! Es lehrte mich vor allem, dass Verzeihen Frieden schließen heißt

(Foto: Picasa; privat)

Als ich sechs bin, bringt man mich in ein Kinderheim. Hier beginnt mein zweites Leben. Ruhe, Frieden, Geborgenheit und Liebe ersetzen langsam das, was ich als Erfahrungen in mir trage. Meine geliebte Erzieherin ist mir wie eine Mutter. Wenn sie mich zu sich mit nach Hause nimmt, dann zeigen sie, ihr Mann und ihr Sohn mir eine andere, heile Welt. Sie sind alles, was ich mit Liebe und Zuneigung in Verbindung bringe.

Doch das Schicksal hat andere Pläne. Nach eineinhalb Jahren im Heim stirbt meine leibliche Mutter an Krebs. Gegen meinen und den Willen meiner Erzieherin werde ich an eine Pflegefamilie mit fünf eigenen Kindern vermittelt, die mich adoptieren will. Eine Familie, die nach strengen katholischen Regeln lebt und die ihren Reichtum mit mir teilen wollen.

Ich lebe mich schnell ein, passe mich an und fühle mich im Kreise der Kinder anfangs wohl. Ihr Plan jedoch, mich zu adoptieren, schlägt fehl. Mein Vater, der nach wie vor das Sorgerecht für mich besitzt und sich inzwischen resozialisiert hat, mischt sich nach zwei Jahren wieder in mein Leben ein und erlaubt keine Adoption.

Ich soll seine Tochter bleiben und er besteht fortan auch darauf, dass ich an diversen Wochenenden meine eigene Familie besuchen darf. Hier kommt er meinem Wunsch nach Kontakt zu ihm und meinen Geschwistern nach. Meine Pflegeeltern müssen also künftig nicht nur mit mir leben, sondern haben gleichzeitig auch immer meine eigene Familie mit im Gepäck und mit ihnen meine Erinnerungen an die Jahre zu Hause, die Spuren hinterlassen haben. Wichtige Entscheidungen, die mich betreffen, sind nun immer auch mit meinem Vater abzusprechen. Das ihnen das nicht gefallen kann, erklärt sich von selber.

Das schwarze Schaf der Pflegefamilie

Zunächst versuchen sie mich noch von einer Adoption zu überzeugen in der Hoffnung, mich besitzen zu können und in ihrem Sinne meine Zukunft zu planen. In einem gemeinsamen Gespräch mit dem Jugendamt und ihnen lehnte ich jedoch selber eine Adoption ab. Ich erinnere mich noch heute an die Worte meines Pflegevaters, die er mir wütend aber eindringlich nach dem Gespräch mitteilte: "Wir wollten kein Pflegekind!"

Von diesem Moment an lässt man mich Ablehnung spüren. Niemand will am Esstisch mehr neben mir sitzen. Ich bin lästig und werde immer mehr zum schwarzen Schaf meiner Pflegefamilie. Alle Probleme, die entstehen, werden an mir festgemacht - ich gehöre nicht mehr zu ihnen. Immer wieder lässt man mich nun auch hier spüren, dass ich nicht gewollt bin, nichts wert bin und nicht geliebt werde. Mein Versuch es ihnen so recht wie Möglich zu machen, gleichzeitig aber auch meine eigene Familie nicht zu vergessen, die ich nun alle 14 Tage am Wochenende besuche, scheitert. Egal was ich tue, ich werde abgelehnt.

Immer stärker zerreißt es mich innerlich. "Wo gehöre ich hin? Wer bin ich? Wer will mich? Wo darf ich sein?" sind nur ein paar der unbeantworteten Fragen. Sie treiben mich in zwei Suizidversuche. Das Jugendamt holt mich nach neun Jahren aus dieser Familie heraus. So ändert sich mein Leben erneut.

Ich komme in eine zweite Pflegefamilie. Doch hier bin ich nur der Goldesel. Zwar ist man freundlich zu mir, aber wie es mir wirklich geht, darum kümmert sich niemand. Inzwischen bin ich 17 Jahre alt und eine lukrative finanzielle Einnahmequelle, denn für ein Pflegekind bekommt man eine Menge Geld. Als der Umzug in ihr neues Haus ansteht, in das ich nicht mitziehen möchte, bin ich auch hier nicht mehr erwünscht und möchte so schnell es geht weg.

Wenn ich eines Tages von dieser Welt gehe

Mit 19 Jahren starte ich in mein drittes Leben. Ich werde schwanger, ziehe mit dem Vater des Kindes zusammen, wir heiraten bald und während er für unseren Unterhalt sorgt, kümmere ich mich um unseren Sohn. Meinem Kind versuche ich all die Liebe zu geben, die ich nie bekam. Nach zehn Jahren Ehe und einem zweiten gemeinsamen Kind, trennen sich mein Mann und ich freundschaftlich.

Inzwischen bin ich seit nun fast zwölf Jahren neu verheiratet und habe zwei weitere Kinder mit meinem jetzigen Mann. Selbst Mutter zu sein, zwang mich jedoch zu schmerzhaften Blicken zurück in meine Vergangenheit. Sie warf Fragen in mir auf. "Wie konnte das alles passieren? Wie konnte man ein Kind so behandeln?"

Ich musste verstehen lernen, dass meine leiblichen Eltern krank waren und nicht böse. Je mehr ich hinterfragt und aufgearbeitet habe, desto mehr entwickelte ich Mitgefühl - mit meinen Eltern und meinen Pflegeeltern. Je mehr ich nachdachte, desto mehr "erwachte" ich in einem Leben, für das ich nun selber Verantwortung übernehmen musste und auch wollte.

Ich "erwachte" auch in der Erkenntnis, dass die Wunden der Vergangenheit keine Rolle mehr spielen durften, denn das Leben spielt nicht rückwärts. Das Vergangene durfte keine Entschuldigung für meine Gegenwart bleiben, sondern lediglich eine Warnung. Das Erlebte zeigte mir die Chancen, es besser zu machen. Es lehrte mich vor allem, dass Verzeihen Frieden schließen heißt.

Abschied von der Vergangenheit

Ich entschied mich, Abschied von meiner Vergangenheit zu nehmen. Mir kam spontan die Idee, dies mit einem symbolischen Akt zu verbinden. Ich schrieb all meine Emotionen und Erinnerungen an diese Zeit auf Zettel: Gewalt, sexueller Missbrauch, Dreck, Chaos, Lieblosigkeit, Zerrissenheit, Angst, Traurigkeit.

Diese Zettel legte ich in eine Schachtel, fuhr in einen Wald und vergrub sie unter einem Baum. Ich zelebrierte den Abschied von meiner Vergangenheit und ließ meine Opferrolle zurück. Ich fühlte mich befreit und verspürte eine tiefe Zufriedenheit. Niemals mehr wieder besuchte ich das Grab meiner alten Emotionen.

Heute verwalte ich eine neue Schachtel. In ihr landen Zettel, die von Glück, Liebe, Spaß, Freude, Hoffnung und Mut berichten. Sie beschreiben mein heutiges Leben. Wenn ich eines Tages von dieser Welt gehe, dann werden meine vier Kinder mir diese Schachtel mit ins Grab legen. Der letzte Zettel, den ich beschriften möchte, soll von einem Leben berichten, in dem alles einen Sinn hatte.

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Hanna Frey, 46, wohnt in Wuppertal, ist Altenpflegerin, Hausfrau, Mutter und Autorin. Über ihr eigenes Leben hat sie ein Buch "Es konnte mich nicht zerstören" geschrieben, das im Herbst im Sich-Verlag erscheinen wird. In einem Buch von Patrick Lynen, "How To Get Veränderung", hat sie ein Kapitel verfasst und trat im WDR-Fernsehen in Lynens Sendung "Die Runde Ecke" auf (ARD Mediathek, Die Runde Ecke, Folge 3, ab Minute 14).

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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