Süddeutsche Zeitung

Design:Wie viel Eiermann braucht ein Kind?

Praktisch war gestern. Die Kindheit ist stylish geworden. Muss das Kinderzimmer heute vor allem den Eltern gefallen?

Von Ann-Kathrin Eckardt

Das Paradies für Kinder liegt in München-Haidhausen zwischen einer Bank und einem Goldschmied. "Engel & Bengel" steht in weißer Schreibschrift auf dunkelroter Markise. Rechts im Regal stapeln sich Feuerwehrstation, Kugelbahn und Rennautos aus Holz, links in der Ecke steht ein weißes Etagenbett von Oliver Furniture für 1599 Euro, im Fenster eine riesige weiße Lampe in Form des Bilderbuchhasens Miffy für 195 Euro. Im Untergeschoss wartet ein handgeflochtenes Stubenbett von Bermbach für 754 Euro auf seinen Einsatz. Kinder sind hier an diesem Nachmittag im Dezember keine zu sehen. Nur Mütter. Vielleicht - und dieser Gedanke kann einem beim Anblick all der schönen Dinge durchaus kommen - ist das Paradies für Kinder eher eins für Eltern.

Hauptsache praktisch, nach diesem Prinzip wurden früher die Zimmer des Nachwuchses eingerichtet. Das alte Bett vom Cousin stand neben einer Kommode vom Flohmarkt. Und wer wirklich großes Glück hatte, bekam zur Konfirmation ein neues Jugendzimmer aus dem XXL-Möbelhaus geschenkt.

Die Zeiten sind vorbei. Nie zuvor haben Eltern ihren Kindern so viel Aufmerksamkeit und Geld gewidmet wie heute. Zahllose Bücher, Blogs und Seminare beschäftigen sich mit der Kindheit in all ihren verschiedenen Entwicklungsstadien und Erscheinungsformen. Auch stilistische Fragen gehören längst dazu. Kinderzimmer werden nicht mehr einfach zusammengewürfelt. Praktisch war gestern. Die Kindheit ist stylish geworden.

Kuratiert wird sie von Eltern, die bereit sind, für eine Kinderzimmereinrichtung den Wert eines Kleinwagens auf den Tisch zu legen. Schon Monate vor der Geburt des Nachwuchses arbeiten sie sich, genauer gesagt in der Regel die Mütter, auf der Suche nach Inspiration für das perfekte Kinderzimmer durch Pinterest und Instagram. Sie rufen bei "Engel & Bengel" an, um zu fragen, ob man hier die Rattanbirne von Ferm, "diese Tierköpfe aus Bast" oder das Nevada-Tipi in Sienna Brown von Nobodinoz kaufen kann. Sie stimmen grau-beige Farbnuancen und Vorhänge aufeinander ab. Auf runden Regalen drapieren sie bunte Stofftiere.

Kinderzimmer müssen heute ins Designkonzept der Wohnung passen

Läden wie "Engel & Bengel" in München, sogenannte Concept Stores für Kids, gibt es längst überall. Sie heißen "Hello Minimi" in Frankurt, "d.nik" in Berlin oder "littlehipstar.com" im Netz. Egal ob Luxus-Hippies, Ökos, Nostalgiker oder Puristen - für jeden Lebensentwurf der Eltern haben sie den passenden Kinderteppich parat. Sie warten mit hochwertigen, meist skandinavischen oder französischen Möbeln auf, gerne auch in Form von Mini-Designklassikern wie Rolf Heides Stapelliege (375 Euro) oder dem Eiermann-Schreibtisch (436 Euro), getreu dem Motto: Was den Großen gefällt, kann für die Kleinen nicht verkehrt sein.

Oder etwa doch? Wie viel Geschmacksdiktat verträgt das Kinderzimmer? Warum halten Erwachsene den Paw-Patrol-Rosa-Glitzer-Geschmack ihrer Kleinen nur so schwer aus? Muss das Kinderzimmer heute vor allem den Eltern gefallen?

"Klar, das Bett von Oliver Furniture kaufen die Eltern auch für sich selbst", sagt Petra Lock, Inhaberin von "Engel & Bengel". Natürlich sei es auch langlebiger, aber generell würden die Kinderzimmer heute mehr "in das Gesamtkonzept einer Wohnung" integriert als früher. Als sie 2004 startete, machte sie einen Großteil ihres Umsatzes noch mit Babynestchen und Schlafsäcken. Doch in den vergangenen Jahren stieg der Möbelanteil stark an.

Katja Runge in Berlin sieht diese Entwicklung kritischer. "Ich finde es Wahnsinn, wie manche Kinder instrumentalisiert werden für den Designgeschmack der Eltern." Ihre Antwort mag auf den ersten Blick überraschen, denn die 51-jährige ehemalige TV-Journalistin hat 2013 selbst eine Designplattform für Kinder gegründet. Trotzdem findet sie es "furchtbar", wenn Sechsjährige in solch hochstilisierten Kinderzimmern leben müssten. Kinder hätten ein eigenes ästhetisches Empfinden, dem man Entwicklungsmöglichkeiten geben müsse, und überhaupt: "Kinder brauchen, bevor sie drei sind, eigentlich gar kein eigenes Zimmer."

Die Geschichte von afilii.com begann, als ihre Tochter ein Jahr alt war. Runge fragte sich: Wo sind eigentlich die guten Kindermöbel, lokal produziert, nachhaltig, durchdacht, bei dem das Kind im Fokus steht? Sie fand sie, aber erst nach langem Suchen im Netz und auf Messen. Auf afilii.com präsentiert sie heute Möbel und Spielzeug von etwa 70 Herstellern aus 15 Ländern. Doch im Unterschied zu anderen Designläden für Kinder sind darunter ganz selten Miniversionen von Klassikern. Jedes Möbel, jedes Wohnaccessoire, jedes Spielzeug sucht Runge vor allem auch danach aus, ob es wirklich kindgerecht ist. Ob es also zum Beispiel genug Raum für die Fantasie der Kinder lässt, ob es mitwächst, ob es auf verschiedene Arten bespielt und genutzt werden kann.

So wie zum Beispiel das Modulsystem von Stocubo. Die Würfel der Berliner Firma sind erst Wickelkommode, dann Kinderküche, Schreibtisch oder Regal. Gerade entwickeln sie bei Stocubo auch noch eine Werkbank für Kinder, die ebenfalls aus denselben Würfeln gebaut werden kann.

Oder "das.Brett", ein geschwungenes Balance Board, das an den Enden nachgibt, wenn man sich draufstellt. Für Kinder ist es Wippe, Autobrücke, Rutsche, Puppenbett, für Eltern ein Trainingsgerät, Großeltern können damit ihre Balance üben. Die Idee kommt aus der Waldorfpädagogik, die beiden Leipziger Matthias Meister und Tony Ramenda haben sie in schlichtes Design übersetzt. "Wir machen kein Spielzeug für eine bestimmte Altersgruppe. Was wir anbieten, muss für die ganze Familie funktionieren", sagt Meister. Er und sein Partner, beide 35, sind selbst spielzeugbegeistert und gründeten ihre Firma Tictoys lange bevor sie selbst Väter wurden. Ein mexikanisches Geschicklichkeitsspiel, das sie auf Reisen kennenlernten, hatte es den Studenten so angetan, dass sie es, zurück zu Hause, perfektionierten und selbst herstellten. 2010 war das, inzwischen haben sie ihr Sortiment um Spielzeug erweitert, das viel Freiraum für eigene Kreativität lässt, "sozusagen das Gegenteil von der sprechenden Puppe bei 'Momo', die immer nur dieselben Sätze spricht und schnell langweilig wird", sagt Matthias Meister.

Doch mitwachsend oder kreativitätsfördernd alleine reicht nicht. Auch ästhetisch sollen die Produkte für die Kleinen sein, denn der Revierkampf beginnt früh - und meist verlieren ihn die Eltern spätestens ab dem zweiten Kind. Egal, wie viel sie aufräumen, des nie enden wollenden Spielzeugstroms aus dem Kinderzimmer werden sie einfach nicht mehr Herr. Denn Kinder sind geborene Eroberer. Wohnungen nehmen sie ebenso schnell ein wie Herzen. Noch bevor sie laufen können, sind sie plötzlich überall: Im Schlafzimmer steht das Beistellbett, im Wohnzimmer der Spielebogen, im Bad die Wickelkommode. Die Glasvitrine muss weichen, das helle Sofa bekommt einen schlecht sitzenden Überwurf, Pflanzen können das Raumklima nur noch ab Brusthöhe aufwärts verbessern.

Olivia Herms hat zwei Töchter, vier und sieben, und den Revierkampf trotzdem noch nicht aufgegeben. Ihr Wohnzimmer im Münchner Glockenbachviertel verteidigt sie hartnäckig. Optik, oder wie die 41-jährige Industriedesignerin sagt, "die Kultur der Ästhetik", ist ihr wichtig. Abends müssen die Kinder ihr Spielzeug deshalb immer wieder in ihr Zimmer räumen, nur ein Wal und ein Elefant dürfen bleiben. Die hat Herms selbst designt. "Ich habe Dinge für meine Kinder gesucht, die sie über Jahre nutzen, aber auch wertschätzen würden, Objekte, an denen sich die ganze Familie erfreut und die ich sogar dann noch in meiner Wohnung haben will, wenn die Kinder irgendwann ausziehen", sagt Herms. Doch etwas zu finden, das ihren Vorstellungen von Ästhetik und Nachhaltigkeit entsprach, und mit dem vor allem auch Kinder wirklich etwas anfangen konnten, erwies sich als schwierig. Also setzte sie sich selbst hin und entwarf einen Wal, einen Elefanten und einen Hasen - ein Tier für jede Grundbewegung, die Freude macht: Auf dem Wal können Kinder schaukeln und Eltern abends ihre Füße hochlegen, der Elefant ist Roll-, Kuschel- und Aufbewahrungstier in einem, und der Hase ist sowohl Hüpfball als auch Sitzgelegenheit.

Vor einem Jahr gründete sie ihr eigenes Label Bada & Bou, ihren Job im Büro des Designers Konstantin Grcic gab sie dafür auf. Was für sie gutes Design für Kinder ausmacht? "Dass die Kinder intuitiv zu einem offenen und kreativen Spiel eingeladen werden. Meine Tiere sind deshalb groß und kuschelig, denn zu großen Tieren bauen Kinder sofort eine Beziehung auf. Und sie lieben weiche Dinge." Viel zu oft werde vermeintliches Kinderdesign von Erwachsenen für Erwachsene designt. "Der Eames-Elefant von Vitra ist zum Beispiel ein wunderschönes Objekt, aber Kinder können damit nicht viel anfangen, weil er aus Holz oder Kunststoff ist, sie können nur darauf sitzen, das war's."

Bei Bada & Bou sind alle Tiere aus grauem Wollgemisch. In einer kleinen Polstermöbel-Manufaktur in Norditalien werden sie von Hand gefertigt. Das hat allerdings auch seinen Preis: Zwischen 225 und 395 Euro kosten die Tiere. Die meisten verschickt Olivia Herms noch selbst inklusive handgeschriebener Karte.

"Unsere Zielgruppe braucht natürlich ein Gefühl für Wertigkeit, ganz viele unserer Produkte werden in Europa produziert", sagt Katja Runge, die auch Bada & Bou auf ihrer Designplattform präsentiert. Aber dafür könne man die Produkte auch nach Jahren noch für den halben Preis wiederverkaufen. Außerdem empfiehlt sie: Lieber weniger, dafür bessere Qualität.

Manche Eltern sehen es außerdem als Investment in den guten Geschmack ihrer Kinder. Sie sind überzeugt: Um das Designverständnis zu prägen, kann man nicht früh genug anfangen. Für 340 Euro können schon Dreijährige mit der Bauhaus-Puppenvilla von Sirch spielen (mit Außengelände und Pool, aber noch ohne Möbel!). Ab sechs sitzt der Nachwuchs dann an der Kinderversion des Eiermann-Schreibtischs. "So schön schlicht", loben die Architekten-Eltern das minimalistische Design des Klassikers. Aber gefällt so ein Tisch auch einem Kind? Kurze Blitzumfrage: "Hässlich", sagt ein Vierjähriger, "Das Unterteil sieht komisch aus", ein Siebenjähriger. Und jetzt?

Melissa Antonius und Lena Schimmelbusch haben schon ein paar Kinderzimmer mit Eiermann-Schreibtischen ausgestattet. Die beiden Interiordesignerinnen von Antonius Schimmelbusch aus Berlin richten neben Büros und Häusern auch Kinderzimmer ein. Dürfen Erwachsene sich mit ihrem Geschmack einfach durchsetzen? "Nein", sagt Lena Schimmelbusch, "Kinderzimmer müssen in erster Linie für Kinder funktionieren." Wann immer es geht, versuchen sie deshalb, die kleinen Bewohner selbst kennenzulernen. Wohnt in dem Zimmer ein Kletteraffe, der sich gerne an einer Sprossenwand austobt? Oder ein Bücherwurm, für den eher eine kuschelige Leseecke passt? Und welche Rituale gibt es in der Familie? Wer wandert nachts zu wem ins Bett? Wer macht wo seine Hausaufgaben? Wer hat welches Lieblingsspiel?

"Aber wenn das alles berücksichtigt wird, ist es doch schön, wenn sich auch Erwachsene im Kinderzimmer wohlfühlen." Wenn zum Beispiel nicht nur Möbel im Zwergenformat dort stehen, sondern auch ein schöner und bequemer Sessel, in dem ein Erwachsener gern vorliest. "Und der muss übrigens nicht teuer sein, wir finden auch bei Ikea und auf dem Trödelmarkt schöne Stücke." Anders als Olivia Herms in München verbannen sie abends auch nicht alles Spielzeug ins Kinderzimmer. Eine Werkbank in der Küche zum Malen, große Ausziehschubladen für Spielzeug im Wohnzimmer oder eine Kuschelecke unter der Treppe hätten sich bewährt, sagt Schimmelbusch. Und nicht erst seit Corona auch: "Ganz klassisch eine Tür zum Zumachen."

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