Meyers Neues Konversations-Lexikon beschrieb das Phänomen mit großem Befremden. "Vegetarianer", hieß es in der Ausgabe von 1860, seien "eine Sekte aus England." Die seltsamen Menschen verzichteten auf den Verzehr tierischer Lebensmittel und ernährten sich ausschließlich von pflanzlicher Kost.
Als "ersten Apostel" der Bewegung bezeichnete das Lexikon den Briten John Frank Newton, Autor der Schrift "Return to nature, or a defense of the vegitable regimen". Der Schriftsteller predige seine "merkwürdigen Lehren und Deutungen" einer wachsenden Schar von Gläubigen.
Führt man das Bild der Gläubigen und der Sekte weiter, mit dem das Lexikon einst Vegetarier beschrieb, muss man die Bewegung heute als Weltreligion beschreiben. Eine wachsende Zahl von Menschen verzichtet darauf, die Produkte toter Tiere zu essen. Auch in Deutschland entscheiden sich immer mehr Menschen für Mango-Apfel-Chutney oder Soja-Medaillons statt für Bratwurst oder Schnitzel. Und sie haben gute Argumente auf ihrer Seite.
Wie viele Vegetarier in Deutschland leben, ist schwer zu ermitteln. Der Vegetarierbund Deutschland (Vebu) rechnet sieben bis acht Prozent der Bevölkerung dieser Ernährungsweise zu - das sind etwa sechs Millionen Menschen.
In der Nationalen Verzehrstudie II haben die Statistiker hingegen ermittelt, dass nur 1,6 Prozent der Bewohner Deutschlands auf Fleisch verzichten. Es gebe unterschiedliche Auffassungen darüber, was einen Vegetarier ausmacht, schreiben Claus Leitzmann und Markus Keller in dem Buch "Vegetarische Ernährung". Das erkläre die widersprüchlichen Zahlen, argumentieren die Ernährungswissenschaftler.
Es ist eine Definitionsfrage. Nur wer auf sämtliche Produkte verzichtet, die von toten Tieren stammen, erfühlt die Kriterien, die von der International Vegetarian Union (IVU) festgelegt worden sind. Und es wird weiter differenziert.
Wer Milchprodukte zu sich nimmt, wird als Lacto-Vegetarier bezeichnet, Eier stehen bei Ovo-Vegetariern mit auf dem Speiseplan. Wer beides mag, kombiniert beide Bezeichnungen im Vegetariertitel. Veganer verzichten hingegen auf sämtliche tierischen Produkte - einschließlich Honig sowie oft auch auf Kleidung aus Wolle oder Leder. Fruganisten erlegen sich noch strengere Regeln auf: Sie verzehren nur Früchte und Samen, weil dafür keine Pflanzen zerstört werden.
Bei Umfragen bezeichnen sich aber auch Menschen als Vegetarier, die auf Fleisch verzichten, aber Fisch essen. "Die vielen Formen vegetarischer Ernährung machen es schwer, genaue Zahlen zu ermitteln", sagt Vebu-Sprecher Sebastian Zösch. Der Trend, dass mehr Menschen in Deutschland auf Fleisch verzichten, ist hingegen belegt. Laut einer Statistik der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) verzichteten 1983 in der alten Bundesrepublik nur 0,6 Prozent der Bevölkerung auf Produkte toter Tiere.
Heute sind es mehr, und 70 bis 80 Prozent dieser Vegetarier sind Frauen. Weiblich, jung, überdurchschnittlich gut gebildet und in der Großstadt zu Hause, das sind laut einer Untersuchung der Universität Jena die Attribute des typischen Vegetariers. Besonders Mädchen zwischen 13 und 19 Jahren sind offen dafür, auf Fleisch und Fisch zu verzichten.
Überzeugte Fleischesser liefern das Spiegelbild: Sie sind im Schnitt männlich, fortgeschrittenen Alters, unterdurchschnittlich gebildet und leben auf dem Land. Eine britische Studie will ermittelt haben, dass Vegetarier im Schnitt einen höheren Intelligenzquotienten haben. Eine historische Wende: Früher aßen Menschen umso mehr Fleisch, je höher ihr gesellschaftlicher Status war. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. "Manche gesellschaftlichen Milieus erreichen wir nicht", sagt der Vebu-Vorsitzende Thomas Schönberger.
Im nächsten Abschnitt lesen Sie, welche Gründe Vegetarier für ihren Fleischverzicht nennen - und wo die erste vegetarische Uni-Mensa eröffnet hat.