Süddeutsche Zeitung

Depressionen bei Kindern:Das traurige Mädchen

Nicht nur Erwachsene sind betroffen: Immer mehr Kinder in Deutschland werden wegen Depressionen behandelt. Ein Besuch bei Paula und ihren Eltern in Hamburg.

Charlotte Frank

Mit der Traurigkeit ist es wie mit der Dunkelheit: Sie ist nicht einfach schlagartig da, sie dämmert langsam und drückend herauf, legt sich wie eine schwere Decke über das Leben und erstickt das Licht. Paulas Problem war, dass es für sie nicht wieder hell wurde. Dass es dunkel blieb und so traurig, dass sie irgendwann zu ihren Eltern sagte: "Ich will nicht mehr leben." Es war ein warmer Urlaubstag auf Sardinien. Paula war zehn Jahre alt. Und wollte sterben.

Das passt nicht zusammen, das darf einfach nicht passen: ein Mädchen, das nicht groß werden und lange Haare haben und später einmal Tierärztin werden will oder Tänzerin. Sondern von den Klippen springen. Erst recht passt das nicht zu diesem Zuhause, zu der gemütlichen Küche am Stadtrand von Hamburg, in der die Junisonne an diesem Nachmittag fast verschwenderisch ihre Strahlen ausgießt: über den bunten Tulpenstrauß auf dem Tisch und den Erdbeerkuchen daneben. Über den Tigerkater, der sich auf der Fensterbank zusammengerollt hat. Über Paulas Mutter Julia, die gerade Milch für einen Cappuccino aufschäumt. "An diesem Tag in Sardinien war uns klar, dass mit Paula wirklich etwas nicht stimmt", sagt Julia. Vorher hatten sie und ihr Mann sich eingeredet, ihre Tochter sei einfach schlecht gelaunt. Ein schwieriger Typ. Frühpubertär.

Welche Eltern können das auch schon ahnen: Dass ihr Kind Depressionen hat?

Wer kann das überhaupt begreifen: Dass schon wenige Lebensjahre reichen, um an der Welt und an sich selber zu zerbrechen? Man kann sich diese Krankheit ja nicht mal bildlich vorstellen, wie Mumps oder ein blaues Auge. Es braucht also viel Zeit und viele Gespräche mit Betroffenen, wie mit Paula und ihren Eltern, Julia und Thomas - alle drei heißen eigentlich anders -, um zu fassen, was das bedeutet: Wenn Kinder nicht glücklich werden können.

Und es braucht Erklärungen, wie es dazu kommen kann. Das erfährt man am besten bei einem wie Gerd Schulte-Körne, der Kinder- und Jugendpsychiater an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität ist und der täglich mit solchen Kindern zu tun hat. In seinem Büro sind die Fenster trotz des Sommerwetters geschlossen, es ist kühl. Der Professor, sehr groß, sehr ernst, kommt gleich zur Sache. "Mindestens drei bis sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden an depressiven Störungen", sagt er, die Zahl nehme massiv zu - unter anderem wegen des wachsenden Leistungsdrucks in Schule und Gesellschaft, aber auch, weil die Krankheit öfter erkannt wird. Selbst die Krankenversicherungen schlagen schon Alarm, zuletzt meldeten die Kassen in Nordrhein-Westfalen binnen drei Jahren einen Anstieg um mehr als 40 Prozent.

Nur selten seien die Eltern daran schuld, Depressionen können auch in eine Kindheit voller Tigerkater und Tulpen einschlagen. "Meist sind neurobiologische Faktoren die Ursache", sagt Schulte-Körne - das heißt, dass schon Kinder und Jugendliche von einer Störung des Hirnstoffwechsels betroffen sein können, durch die Emotionen nicht richtig verarbeitet werden. Das passiert vor allem, wenn sie Verwandte haben, die auch depressiv sind. Ein zweiter Grund sind Umwelteinflüsse. "Das müssen nicht gleich so tragische Ereignisse sein wie sexuelle oder körperliche Gewalt", erklärt der Professor, auch Stress oder chronische Überforderung in der Schule können zu Verstimmungen führen.

Paula ist Legasthenikerin, ihre Depression brach nach dem Wechsel aufs Gymnasium aus. Ihr Onkel litt ebenfalls unter Stimmungsschwankungen. Und bevor sie ihre Suizidgedanken äußerte, bestand ihr Leben fast nur noch aus Essen und Schlafen. Aber keiner verstand die Warnsignale, die Ärzte kamen nicht darauf, was sie hatte. Sie testeten Paulas Hormone und ihr Gehör, ihre Augen, ihr Blut. Alles war gut, doch Paula ging es schlecht. "Wir waren fast erleichtert, als die Diagnose ,Depression' stand", sagt ihre Mutter. "Da wussten wir wenigstens, wogegen wir kämpfen müssen."

Julia sitzt auf einer knorrigen Küchenbank, an der Wand über ihr hängt eine Bildergalerie: vier Collagen mit Familienfotos, über die die Buchstaben L, O, V, E gedruckt sind. Liebe. Neben ihr lümmelt Paula, gedankenversunken dreht sie eine Playmobil-Robbe in der Hand. Sie ist ein sehr stilles Kind, dichte braune Haare, feine Gesichtszüge. Wer sich mit ihr unterhält, wird nicht sofort bemerken, dass sie depressiv ist. Aber er wird merken, dass sie viel zu ernst ist für ihr Alter. Zu negativ. Dass sie ihr Gegenüber irritiert, weil sie nicht so reagiert, wie Elfjährige sonst reagieren: Nach dem Streichelzoo in ihrer Schule gefragt, erzählt sie keine Tiergeschichten. Sie sagt: "Ich mag keine Ziegen." Auf ihre Freundinnen angesprochen, erwähnt sie als Erstes, von welcher sie schon belogen wurde.

Das fühlt sich an, als würde Paula ihr Gegenüber bewusst auflaufen lassen; ihr durchdringender Pessimismus wirkt verunsichernd - selbst auf ihre Eltern: "Es macht unfassbar hilflos, wenn du an die eigene Tochter nicht rankommst", sagt Julia. "Wenn Paula sich in ihre Welt zurückgezogen hat, kreist sie nur noch um sich selbst", ergänzt ihr Vater Thomas, der inzwischen von der Arbeit nach Hause gekommen ist. Die Eltern gibt es dann nicht mehr für Paula, auch nicht die Schwester oder den Tigerkater oder das Trampolin im Garten. Es gibt nur noch die Traurigkeit.

In das kühle Büro von Professor Schulte-Körne kommt Leben, zwei junge Wissenschaftlerinnen sind zum Gespräch dazugestoßen. Mit ihnen forscht er nach Wegen, Depressionen bei Kindern und Jugendlichen früher zu erkennen. "Das Ziel ist ein Fragebogen, der Ärzten hilft, Zeichen wie Müdigkeit, Bauch- oder Kopfschmerzen schneller als mögliche Symptome einer Depression auszumachen", erklärt Antje Allgaier, eine der beiden Psychologinnen. Das ist ein ambitioniertes Projekt, denn noch gibt es in Deutschland kein etabliertes Früherkennungs-Instrument. Auch deshalb werden Depressionen bei jungen Menschen noch viel zu oft übersehen. Hinzu kommt, dass diese vor der Pubertät selten so heftig ausbrechen wie bei Paula; oft treten sie nur phasenweise auf und verschwinden wieder. So, als lauerten sie - denn später kehren sie in immer kürzeren Intervallen zurück. "Wenn eine Depression im Kindesalter unbehandelt bleibt, können sich die Folgen durchs ganze Leben ziehen", sagt Schulte-Körne. Doch selbst wenn die Krankheit diagnostiziert wird: Heilbar ist sie nie. Kinder und ihre Eltern können nur lernen, damit umzugehen.

Paulas Familie hat das geschafft, Ärzte haben ihnen dabei geholfen, auch Julias Kämpfernatur und Thomas' Warmherzigkeit. Mittlerweile haben sie gelernt, sich in Paulas Welt einzufühlen. Ihr "So-Sein" nennen sie diese Welt, in der es anders ist als in ihrer, dunkler, schwerer, "aber auf ihre Weise richtig", sagt ihre Mutter. Sie verstehen jetzt, dass es Paula unglücklich macht, wenn ihr Spaß machen soll, was allen anderen Spaß macht. Dass es nichts bringt, sie mit einer Radtour aufzuheitern oder mit einem Eis. Ein Mensch, der lange im Dunkeln saß, freut sich nicht über plötzliches grelles Licht. Es blendet nur, es nimmt das bisschen Sicht, was noch da war.

Deshalb versuchen sie jetzt, Paula in der Dämmerung entgegenzugehen, sie abzuholen aus ihrer Welt, so gut es geht. Immerhin, die Suizidgefahr ist vorerst gebannt, Paula will nicht mehr sterben. Nach den Sommerferien beginnt sie eine Therapie. Die Eltern hoffen, dass dann auch das Weinen weniger wird - und das Lachen zurückkommt.

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Quelle:
SZ vom 22.06.2010/seng
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