Demografie:Deutschland wird älter - und darum komfortabler

Rentnerpaar vor dem Reichstag

Ein älteres Paar auf einer Bank in Berlin. Als "alter Mensch" fühlt sich heutzutage kaum jemand angesprochen.

(Foto: dpa)

Die Zahl der alten Menschen in Deutschland wächst beständig. Das ist keine schlechte Nachricht: Der Markt reagiert auf die betagte Kundschaft. Auch die Jungen profitieren.

Von Ulrike Heidenreich

Noch vor wenigen Jahrzehnten war es etwas ganz Seltenes, wenn da jemand in der Nachbarschaft hundert Jahre alt wurde. Auch heute rückt zur Feierstunde beim "rüstigen" Jubilar der Liederkreis an, der Pfarrer und der Bürgermeister - mindestens mit einer Flasche Sekt, Blümchen und einem Präsentkorb in der Hand. Wie Wunderwesen bestaunt man die ergraute Spezies dann. Umso mehr, wenn diese auch noch geistig rege und bei gutem Hörvermögen ist.

In Zukunft dürfen die Würdenträger des Ortes mehr Zeit für ihre Gratulationsrunden einplanen. Die Zahl der Hundertjährigen in Deutschland wächst beständig. 16 860 Senioren im dreistelligen Alter hat das Statistische Bundesamt zuletzt gezählt. In zehn Jahren sollen es schon 44 200 sein. Kein Grund aber, nur über Pflegenotstände zu lamentieren - denn der "graue Markt" birgt neues Potenzial und viele Ideen.

Die Alten fühlen sich um zehn Jahre jünger als sie sind

Erst seit dem Jahr 2011 erfassen die Statistiker des Bundesamtes diese Altersgruppe gesondert: Zu diesem Zeitpunkt waren es noch 14 436 Hochbetagte, die hundert oder ein paar mehr Jahre zählen. Die Kurve geht stetig nach oben: Nach Prognosen der Vereinten Nationen könnten hierzulande im Jahr 2025 etwa 44 200 Menschen ihren hundertsten Geburtstag feiern - und im Jahr 2050 dann sogar 114 700 Menschen. Schon jetzt übrigens zählt Deutschland nach Japan zur zweitältesten Gesellschaft der Welt - mit einem Durchschnittsalter von 46,3 Jahren. Älter als 65 Jahre ist inzwischen jeder fünfte Deutsche.

Wer da nur tatterige Demente mit dem Rollator vor seinem inneren Auge sieht, liegt falsch. Denn die 65- bis 85-Jährigen in Deutschland fühlen sich schon jetzt um zehn Jahre jünger, als sie es sind. Auch agieren sie deutlich vitaler und mobiler als ihre Vorgänger-Generationen - das hat das Allensbach-Institut vor zwei Jahren für die breit angelegte "Generali-Altersstudie" herausgefunden.

Die gut 4000 dazu befragten Senioren waren im Durchschnitt an fünf Tagen in der Woche außer Haus unterwegs, jeder Dritte sogar täglich. Als "alter Mensch" fühlte sich niemand von ihnen angesprochen, höchstens die Bezeichnung "Best Ager" ging noch gnädig durch. Die Forscher sahen daraufhin das Altersbild komplett ins Wanken geraten und lasen neue Lebenslust der Rentner heraus. 100 könnten also die neuen 80 werden - wenn die innere Einstellung und die äußeren Umstände sich weiter so wandeln.

Gerade bei den äußeren Umständen tut sich viel. Aufmerksam registriert werden einerseits neue Zahlen, die im Pflegereport 2015 veröffentlicht wurden. Demnach müssen in 45 Jahren geschätzt 4,5 Millionen Menschen in Deutschland gepflegt werden. 60 Prozent der Männer und 70 Prozent der Frauen, die der Pflege bedürfen, werden im Jahr 2060 mindestens 85 Jahre alt sein. Zum Vergleich: Die entsprechenden Werte liegen heute bei 30 beziehungsweise 50 Prozent. Die Entwickler von altersgerechten Wohnprojekten und Designer werden von solchen Zahlen und Botschaften aber eher beflügelt, als dass sie sie mit Sorge betrachten.

Der Gedanke, dass sich die Menschen im Alter nicht entmündigt fühlen sollen, führt beispielsweise zu preisgekrönten Projekten wie der "Ermündigungswohnung" in Berlin-Marzahn; das ist eine 140-Quadratmeter-Musterwohnung, in der intelligente Technik fürs selbständige Leben im Alter getestet wird. Wohlgemerkt handelt es sich nicht um eine Ermüdungswohnung: Eine "Senior Research Group", die das Zentrum für Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin aus älteren Herrschaften zusammengestellt hat, hält hier die Forscher auf Trab.

Extrabreite, selbstschließende Türen, höhenverstellbare Tische und Schränke oder Fernbedienungen für Elektrobetten testen sie darauf hin, ob sie für alte Menschen sicher und leicht zu handhaben sind. Bei der Internationalen Funkausstellung gab es für dieses Pilotprojekt der Technischen Hochschule Wildau den "Telematik"-Award. Den wiederum verleiht der Gesundheitsdienstleister OTB, mit 50 Fachgeschäften der Hilfsmittelbranche schwer interessiert an Innovationen. Denn der Markt wächst naturgemäß.

Die Welt wird geduldiger

Designer verausgaben sich seit längerem mit den raffiniertesten Einstiegen bei Seniorenbadewannen, die Welt wird schöner und bequemer - für alle, auch für die Jungen. Das Saarbrücker Consulting-Unternehmen Meyer-Hentschel, das unter anderem den Alterssimulationsanzug Age Explorer entwickelt hat, lobt regelmäßig den SilverPack-Award aus, um Unternehmen für "höfliche Verpackungen" auszuzeichnen - das sind solche, die auch für ältere Menschen mit weniger Körperkraft mühelos zu öffnen sind.

Institutsleiter Gundolf Meyer-Hentschel gerät regelrecht ins Schwärmen, wenn er auf die Bevölkerungspyramide sieht: "Die wachsende Zahl älterer Menschen macht unsere Welt einfacher, komfortabler und geduldiger." Immer mehr Unternehmen optimierten ihre Produkte und Verpackungen, ihre Läden und Dienstleistungen so, dass sie für ältere Kunden bequemer würden.

Eine Welt, die sich entschleunigt, tut also allen gut

Die Beispiele: Konfitürengläser lassen sich mit weniger Kraft öffnen als früher. Duschwannen mit hohem Einstieg verschwinden und weichen bodengleichen Duschen. "Die Bahn denkt darüber nach, die Umsteigezeiten anzupassen, damit ältere Menschen eine Chance haben, ihre Anschlusszüge zu erreichen. Einzelhandel, Banken und Verkehrsunternehmen schulen ihr Personal im höflichen und geduldigen Umgang mit älteren Kunden", sagt Meyer-Hentschel.

Auch sein Unternehmen führt diese Schulungen durch, das ist eine schweißtreibende Angelegenheit: Denn mit Alterserforschungsanzügen, die das Seh- und Hörvermögen einschränken sowie die Gliedmaße beschweren, fühlen sich die Auszubildenden 30 bis 40 Jahre älter. Das Verständnis für ältere Menschen, die vielleicht nicht mehr ganz so auf der Höhe sind, wächst dann automatisch.

Eine Welt, die sich entschleunigt, tut also allen gut, auch den jungen Menschen. Loring Sittler vom Generali-Zukunftsfonds wagt gar die Prognose: "Weil sich die ältere Generation gleichsam verjüngt, kann sie die Folgen der demografischen Entwicklung zum Teil kompensieren." Der Lebensqualität und dem Gesundheitszustand von Hundertjährigen in Deutschland haben sich auch Wissenschaftler in der empirischen "Heidelberger Hundertjährigen-Studie" bereits zweimal genähert.

Unter anderem kommen sie darin zu dem Schluss, dass eine Mehrheit der befragten Hochbetagten einen deutlich ausgeprägten Lebenswillen habe und nicht oder nur wenig kognitiv eingeschränkt sei. Auch die unausgesprochene Frage, ob ein Mensch überhaupt so alt werden möchte, beantwortet die Untersuchung. "Eine erstaunlich große Anzahl der Hundertjährigen findet ihr Leben lebenswert. Die Zufriedenheit verschlechtert sich nicht in sehr hohem Alter", heißt es.

Auf die Frage, ob sie leicht zum Lachen zu bringen seien, antworteten mehr als die Hälfte der Hundertjährigen, 57 Prozent, mit einem fröhlichen "Ja" und nur zwölf Prozent mit einem "Nein". Ungefähr ein Drittel von ihnen war sich nicht so sicher.

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