Demenz:"Freunde, was haben wir heute gegessen?"

Lesezeit: 6 min

Den Demenzkranken helfen einfache Spiele: Rätsel trainieren das Gedächtnis, Dosenwerfen die Hände und den Geist. (Foto: Hannes Jung)

Mit Bauklötzen spielen oder Gemüsesorten raten: Tagesbetreuungen für Demenzkranke erinnern an Kindergärten für Senioren, sind für Patienten wie Angehörige aber ein Segen.

Von Kristiana Ludwig, Berlin

Beim Frühstück sitzt der Grundschullehrer Hartmut Baumann ungern neben dem Zollbeamten. Der will immer alles wegnehmen. Der Beamte greift nach der Kaffeetasse vom Lehrer. Er greift nach dem Orangensaft. Nach einer Weile bringt eine Krankenschwester bunte Holzbausteine, die sie auf dem Tisch verteilt. Jetzt greift der Zollbeamte nach Klötzchen.

Die beiden Männer frühstücken gemeinsam, weil sie ein Leiden teilen. Sie sind an Demenz erkrankt. Beide verlieren Stück für Stück die Erinnerung an ihr Leben, an ihre früheren Berufe, an die vergangenen Minuten und daran, wie alltägliche Dinge funktionieren. Deshalb sitzen sie in einem Berliner Klinkerbau, an dessen Tür "Tagespflege" steht. Das Prinzip ähnelt dem der Kindertagesstätte im Nebenhaus: Dorthin bringen die Eltern ihre Kinder. Hierher bringen die Kinder ihre Eltern.

Knapp 1,6 Millionen Menschen sind in Deutschland an Demenz erkrankt, und jedes Jahr kommen etwa 300 000 Patienten hinzu. Experten gehen davon aus, dass circa zwei Drittel von ihnen zu Hause versorgt werden, also von ihren Familienmitgliedern oder Freunden. Die Berliner Alzheimer-Gesellschaft empfiehlt diesen Angehörigen beispielsweise die Tagesstätte "Die Aue" im Stadtteil Wilmersdorf. Dort betreuen Altenpfleger Menschen, die nicht alleine sein können, vorbildlich. Der Pflegedienstleiter Andreas Rath war selbst im Vorstand des Alzheimer-Vereins. Während die Patienten hier sind, können ihre Töchter, Söhne oder Ehepartner Pause machen. Das ist wichtig, damit sie nicht unter der Aufgabe zusammenbrechen.

Der Lehrer Hartmut Baumann kommt jeden Montag und jeden Mittwoch. Seine Frau hat ihn darum gebeten, er tut es ihr zuliebe. Sie kann in dieser Zeit arbeiten gehen, das wäre sonst nicht möglich. Würde sie ihren Mann in der Wohnung zurücklassen, würde er vielleicht die Treppen herabsteigen und sie auf der Straße suchen. Vielleicht würde er sich dann verlaufen. Vielleicht würde er in sein Auto steigen.

Am Montagmorgen gehen die Baumanns nun gemeinsam vor die Tür. Ein Kleinbus hält um 8.20 Uhr an der Straßenecke. Frau Baumann gibt ihrem Mann einen Kuss. Als er einsteigt, stützt sie ihre Hände in die Hüfte und atmet aus. Ihre Wangen glühen. Das Leben mit einem kranken Mann ist anstrengend. Früher hat Baumann Sport unterrichtet, er ist nach Seeigeln getaucht oder hat den Garten umgegraben. Heute betrachtet er oft die Autodächer von oben. Er spuckt in die Topfpflanzen. Er schaut fern, aber alle paar Minuten einen anderen Sender. Wenn ihn seine Frau nicht daran erinnert, verzichtet er darauf, seine Kleidung zu wechseln - selbst dann, wenn er vergessen hat, rechtzeitig zur Toilette zu gehen. Das Meer macht ihm heute Angst. Seine Frau macht ihn häufig wütend. In diesem Artikel soll deshalb nicht sein echter Name stehen.

Nebenan in der Kita bringen Eltern ihre Kinder - hier ist es andersrum

Sabine Baumann ist 68 Jahre alt und liebt Eisschnelllaufen und Inlineskaten. Doch seit ihr Mann vor drei Jahren vergesslich wurde, bestimmt er die Geschwindigkeit ihres Lebens. Freiheit hat sie jetzt nur noch zweimal in der Woche, von 8.20 bis 16 Uhr. An Tagen wie heute, dank der Tagespflege. Die Kasse bezahlt diese Betreuung. Auch, damit Menschen wie sie, die ihre Angehörigen versorgen, entlastet werden.

Im Kleinbus sitzt Hartmut Baumann heute auf der Rückbank. Er beißt auf seine Unterlippe und lächelt still. Vorne, am Steuer, lenkt Pfleger Andreas Rath den Bus durch Wilmersdorf. Er holt jeden Patienten von zu Hause ab. Rath blickt auf diesen Fahrten in die Wohnungen der Menschen, die er den Nachmittag über beschäftigen soll. An der Türschwelle schaut er in ein Leben hinein, das sich die Leute einmal aufgebaut haben. Er sieht, was davon übrig ist.

Eine Frau hat jeden Tisch und jede Tür in ihrer Wohnung mit kleinen Zetteln beklebt. Telefonnummern stehen darauf, deutsche Wörter und Schriftzeichen aus ihrer Heimat Japan. Gedächtnisstützen.

Eine andere Dame legt immer mehrere Goldketten an, wenn sie ausgeht. Früher leitete sie ein Lederwarengeschäft, dort gab sie die Anweisungen. Heute beugt sich Pfleger Rath beim Abholen zu ihr herab und hebt einen Gehstock wie ein Mikrofon zum Mund. "Sie ist eine schöne Frau!", singt er. Sie strahlt. Als der Kleinbus bei einem ehemaligen Versicherungskaufmann hält, steht der schon auf dem Gehsteig. Er ist ein Herr mit weißem Seitenscheitel und wachem Blick. Pfleger Rath geht mit großen Schritten auf ihn zu, hebt beide Arme in die Luft und drückt den Mann an seine Brust. "Mein Freund!", ruft er. Schließlich sind es 14 Damen und Herren, die zur Tagespflege kommen. Nach dem Frühstück beginnt für sie das Programm.

Hartmut Baumann soll heute ein Törtchen belegen. Die Pfleger haben Vanillepudding auf den Tisch gestellt, dazu Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren. Baumann wählt ein Himbeer-Dekor, dann schlägt er ein Bein über das andere und faltet die Hände. Er blickt sich um.

Eine Frau mit grimmigen Blick nimmt ein Törtchen in den Mund, das nur mit Pudding bestrichen ist. Sie hat die Beeren vergessen. Zwei Mal hatte sie die Pflegerin ermahnt, nicht abzubeißen. Beim dritten Mal schaut sie nicht hin. Der große Herr neben ihr soll Erdbeeren schneiden. Doch statt in das Schälchen legt auch er jede einzelne auf seine Zunge. Baumann wartet.

SZ PlusDemenz
:Vergissmeinnicht

In einer Demenzstation in München steht ein Marktplatz, mit Obststand, Stammtisch und Maibaum. Die Patienten soll das an früher erinnern und sie beruhigen. Notizen aus der Scheinwelt.

Von Josef Wirnshofer

Als alle Kuchen verziert sind, schlägt die Pflegerin ein Spiel vor. Jeder wählt einen Buchstaben des Alphabets - dann sollen die Herrschaften eine passende Obstsorte nennen. "Johannisbeere", sagt Baumann. Ein ehemaliger Psychologe im Jackett ist vom Tisch aufgestanden und steht murmelnd am Fenster. "Herr Doktor", spricht ihn eine Pflegerin an. "Kennen Sie ein Gemüse mit P?" - "Ich hab's nicht so mit Gemüse", sagt er. "Das ist nicht so Ihr Gebiet", sagt die Pflegerin.

Durch das Fenster können die Alten in den Garten der Kita schauen. Drüben schieben Vierjährige Tretroller durch den Sand. Bunte Bastelbilder und Gesellschaftsspiele gibt es dort genauso wie hier. Auch die Idee, Obstsorten zu erraten, könnte von den Kindergärtnern stammen. Doch Demenzkranken, die sich ihre Gedanken und Worte zum Teil nicht länger als fünf Minuten merken können, helfen solche einfachen Spiele. Wenn die alten Leute hier auf bunte Dosen werfen, trainierten sie ihre Hände und ihren Geist. Ohne die Tagespflege wären viele von ihnen einsam, sagt Pflegeleiter Rath.

Grundschullehrer Baumann hat sich mittlerweile auf die Terrasse gesetzt, aber seine Haltung ist gleich geblieben: Die Hände gefaltet, die Beine gekreuzt. Die Leute werfen auf Konservendosen, jeder soll seine Punktzahl selbst ausrechnen. "Nach Adam Riese 50", sagt der Versicherungskaufmann. Er mag Floskeln. Auch Baumann lächelt. Er mag Rätsel.

Der Kaufmann sitzt jetzt neben Baumann, er hat den Platz gewechselt. Er konnte die Hotelangestellte neben ihm nicht mehr ertragen. Lautstark erzählt sie von ihrem Vater. Der habe im VW-Werk gearbeitet, sagt sie, und presst ihre Handtasche auf ihren Schoß. "Im VW-Werk", sagt sie wieder. Von den Szenen ihres Lebens berichtet sie, als wären es Filmschnipsel. Der erste Ehemann schlug sie. Die Polizei war im Treppenhaus: "Die haben gesagt: Mach mal 'ne Anzeige." Sie spricht ohne Pausen und ohne Logik, und auch dann, wenn ihr niemand zuhört.

"Wir leben im Augenblick", sagt Andreas Rath. Er glaubt, dass Menschen, die ihre Sprache, ihre Gedanken und schließlich ihre Persönlichkeit verlieren, irgendwann nur noch auf Emotionen reagieren. Deshalb singen er und seine Kolleginnen hier Volkslieder. Deshalb nehmen sie die Männer in den Arm und küssen die Frauen auf die Wangen. Egal, ob die Menschen früher Chefs waren oder Kneipengänger, Professoren oder Staplerfahrer. Sie wollen den Alten Nähe geben.

Sabine Baumann hat sich genau wegen dieses Konzepts dafür entschieden, ihren Mann in diese Tagesstätte zu schicken. "Diese Liebe hat mir gefehlt bei den anderen", sagt sie. In den Einrichtungen, die sie davor besucht hatte, hätten die Alten bloß so herumgesessen. Baumann aber wünscht sich, "dass man mit den Menschen menschlich umgeht". Dass es sich für ihren Mann vertraut anfühlt.

Ob das Angebot passt, ist eine Typfrage. Manche basteln gerne, andere verstört es

Auf der Terrasse, wo Hartmut Baumann heute den Nachmittag verbringt, erhebt sich eine Frau jede Viertelstunde von ihrem Gartenstuhl. In roter Jogginghose und mit zittriger Hand schlurft sie ins Haus und sagt dabei jedes Mal: "Ich muss klein." Sie hat etwas Kindliches an sich, so wie viele der kranken Menschen hier. Als sie vorbeigeht, gibt ihr Pfleger Andreas Rath einen Klaps auf den Hintern.

Wo verläuft die Grenze zwischen einer medizinisch sinnvollen Betreuung für Vergessliche und einem Kindergarten für Erwachsene? Der Vorstand der Fachgesellschaft Palliative Geriatrie, Dirk Müller, ist Experte für die Betreuung von Demenzpatienten. Auch er sagt: "Die alten Menschen brauchen Berührung." Welche Art von Zuneigung angemessen sei, sollten Pfleger aber am besten daraus ableiten, wie die Charaktere der Menschen im gesunden Zustand waren. Ob eine Tagespflegeeinrichtung Demenzkranken guttut, sei auch eine Typfrage: Während der eine Patient beim Basteln und Rätseln aufblüht, kommt ein anderer nach einem Tag Bespaßung verwirrter nach Hause als zuvor. "Demente Menschen reagieren nicht automatisch positiv auf Veränderungen", sagt Müller: "Manchmal ist ein Besuchsdienst besser."

Wie es den dementen Menschen in der Tagespflege "Die Aue" gefällt, ist nicht leicht zu sagen. Wer alles vergisst, kann schließlich schwer berichten. "Freunde, was haben wir heute gegessen?", fragt Pfleger Rath am Kaffeetisch. Der Versicherungskaufmann blickt ihn lange an. "Da muss ich mich erst drauf besinnen", antwortet er schließlich. Ein Kunsthistoriker mit schneeweißem Bart, der heute noch kein Wort gesprochen hat, blickt auf. "In diesem Jahr war meine Frau in Mailand", sagt er plötzlich. "Da hat meine Tochter den Betrieb gehalten." Eine Pflegerin legt ihren Zeigefinger an die Lippen: "Wir wollen uns jetzt über Biersorten unterhalten."

© SZ vom 19.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusÜber die Demenz des Vaters
:Sein und Nichtsein

Häufig versunken in Nebel und dunklen Gedanken, wenige lichte Momente - seit vier Jahren ist der Vater unseres Autors dement. Die Krankheit hat beide verändert.

Von Andreas Wenderoth, SZ-Magazin

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: