Legendärer Landstreicher:Ein zäher Bursche

Legendärer Landstreicher: Eine markante Erscheinung: The Old Leatherman.

Eine markante Erscheinung: The Old Leatherman.

(Foto: Courtesy of Dan W. DeLuca)

USA im 19. Jahrhundert: Ein mysteriöser Mann wandert immer wieder die 365 Meilen zwischen New York und Connecticut - und wird durch Zeitungsberichte bekannt. Die Geschichte des "alten Ledermanns".

Von Carolin Werthmann

Alles an ihm war aus Leder. Hose, Mantel, Schuhe, Hut, Rucksack. Nie wechselte er die Kleidung. Hätte er es getan, hieße er nicht "der alte Ledermann". Unter diesem Namen wurde er bekannt, jener Vagabund, der im 19. Jahrhundert zwischen den US-Bundesstaaten New York und Connecticut hin- und herwanderte.

30 Jahre soll er unterwegs gewesen sein, mindestens sechs davon auf der immer gleichen Route. Er lief 365 Meilen im Uhrzeigersinn.

Alle 34 Tage erreichte er dieselben Orte, Danbury, New Fairfield, Watertown, Westchester, wieder Danbury. Er war so pünktlich, dass jede Unpünktlichkeit eine Nachricht wert war. Die Presse schrieb gern über ihn, und Kinder rannten aus der Schule, um einen Blick auf den Ledermann bei der Durchreise zu erhaschen. Seine Identität blieb ein Rätsel.

Im August 1869 berichtete das Port Chester Journal über einen Mann im zerfledderten Lederanzug, der seit Längerem damit auffiel, allein auf Wanderschaft zu sein. Er schlief in Höhlen, aß Beeren, ging und kehrte wieder. "Der armen Kreatur", stand in der Zeitung, könne man nur Glück wünschen in ihrer Einsamkeit.

Es folgten Berichte in der Bristol Press, im Connecticut Valley Advertiser, Waterbury Daily American, in der New York Times. Bis zum Tod des Ledermanns 1889 wuchs ein immenses Repertoire an Texten, das der Amerikaner Dan W. DeLuca 2008 in einer Publikation mit dem Titel "The Old Leather Man" bündelte.

"Old" oder "Alt" sind im Grunde irreführende Worte: Der Ledermann war etwa 50, als er starb.

Wilde Theorien

Den Aufzeichnungen zufolge wirkte er so, als sei seine Wanderung das lebenswichtigste Unternehmen der Welt, als ginge es um Leben oder Tod, sein Ziel, was immer das auch sein mochte, zum vorgesehenen Zeitpunkt zu erreichen.

Er war friedlich und sprach nicht viel, und wenn, dann einzelne Silben auf Französisch und Englisch, was die Leute nur noch mehr faszinierte. Der Ledermann war wie eine real gewordene Märchenfigur. Mancher assoziierte den Ledermann mit der Figur des Ewigen Juden aus christlichen Volkssagen, auf immer zur Rastlosigkeit verdammt, um Sühne für vergangene Sünden zu leisten.

Ein wenig Sühne steckt in der Tat in einer der Theorien, die seine Herkunft begründen soll. Das Schöne: Die Theorie ist eine Liebesgeschichte. Das Schlechte: Es gibt kein Happy End. Noch schlechter: Das Ganze ist nicht mal wahr - aber zu wunderbar tragisch, um es zu ignorieren.

Sein Name soll Jules Bourglay gewesen sein. Er kam aus dem französischen Lyon und hatte sich in die Tochter eines wohlhabenden Lederhändlers verliebt. Doch Heiraten war ein kompliziertes Vorhaben unter den Argusaugen des Vaters.

Jules Bourglay müsse sich erst als Ehrenmann beweisen, die Gunst seiner Tochter und den Segen des Schwiegervaters in spe verdienen. So übergab der Vater sein Geschäft temporär in die Hände des jungen Mannes. Sollten ihm florierende Abwicklungen gelingen, stünde einer Hochzeit nichts im Wege. Eine Zeitlang ging das gut, Bourglay wirtschaftete tüchtig. Dann investierte er übermütig in neue Lederware. Dann stürzten die Preise. Dann stürzte er.

Der Schwiegervater, der nie ein Schwiegervater werden würde, verstieß ihn. Jules Bourglay floh nach Amerika, wo er sich fortan eingewickelt im Stoff des Unglücks Schritt für Schritt für sein Scheitern bestrafte.

Im Rucksack des Ledermanns fand man später neben einer Pfeife, einem Beil und Klappmessern ein französischsprachiges Gebetsbuch. Selbst wenn er nicht Jules Bourglay war, so musste er doch Franzose sein.

Obwohl die Beweise mickrig waren, brachte man einige Jahre nach seinem Tod auf einem Grab auf dem Sparta Cemetery in Ossining, New York, den Namen Jules Bourglay an. Inzwischen wurde das Grab verlegt und der falsche Name ersetzt. Heute stehen dort zwei andere Wörter geschrieben: The Leatherman. Anonym zwar, aber immerhin kein Märchen.

30 Kilogramm schwere Lederkutte

Im September 1888 verspätete er sich. Ein Schneesturm wütete. Aus den üblichen 34 Tagen wurden 36. Dem Ledermann ging es schlecht. Unter seinem Kinn schwoll ein Geschwür so groß wie eine Orange. Krebs zerfraß seine Lippen.

Der Brewster Standard zitierte einen Arzt, der den Wanderer sah. Es sei nur eine Frage der Zeit, sagte dieser, bis die Reise des Ledermanns ein Ende haben werde. Die Bristol Week Press schrieb, der Ledermann könne nur noch essen, was zuvor in Kaffee getunkt wurde, doch selbst das Kauen weicher Kost schmerzte so sehr, dass Tränen seine Wange hinabliefen.

"The Old Leather Man Dead - Der Alte Ledermann ist tot", titelte am 25. März 1889 die New York Times. Man fand ihn in einer Höhle in der Kleinstadt Mount Pleasant.

Sein lederner Anzug, mehr Kunstwerk als Kleidung und etwa 60 Pfund schwer, wanderte nicht unter die Erde, sondern an die Besitzer des Meehan & Wilson's Globe Museum in New York und das Eden Wax Musée auf Coney Island. Dort brach 1928 allerdings ein Feuer aus. Die Kleider verbrannten in den Flammen.

Vielleicht war dieser ewig Wandernde alles, nur kein Suchender. Weder auf der Suche nach sich selbst noch nach etwas anderem, weder nach Erlösung begangener Sünden noch nach einer Bewältigung verlorener Lieben. Gehen um des Gehens willen, eine Leichtigkeit des Seins.

Dieser Text erschien erstmals in der Print-SZ vom 23.05.2020.

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