Dem Geheimnis auf der Spur:Wunder in der Erde

Dem Geheimnis auf der Spur: Hier wurde schon ein Templertreff oder Piratenversteck vermutet - die „Shell Grotto“ im englischen Margate.

Hier wurde schon ein Templertreff oder Piratenversteck vermutet - die „Shell Grotto“ im englischen Margate.

(Foto: mauritius images / Steve Vidler)

Eine Grotte in der Nähe von Dover wurde über und über mit Muscheln und Schnecken dekoriert. Aber warum?

Von Titus Arnu

Wer Kent kennt, erwartet dort vielleicht Kreidefelsen, Schlösser, Fish and Chips. Besonders kenntnisreiche Kent-Kenner mögen auch vom hervorragenden sparkling wine gehört haben, der dort seit einigen Jahren nach der Champagnermethode erzeugt wird - oder gar vom Hundehalsbandmuseum im Leeds Castle. Aber eine Grotte, die mit Millionen Muschelschalen dekoriert ist? Das überrascht dann doch.

Die "Shell Grotto" in Margate, einem Küstenort mit 64 000 Einwohnern unweit von Dover, war lange Jahre völlig unbekannt. Mittlerweile gilt sie als wichtige regionale Sehenswürdigkeit, wirkt aber oberflächlich betrachtet, wie es Höhlen halt so an sich haben, erst mal wenig spektakulär. Besucher betreten die Höhle durch ein unscheinbares Gebäude mit Café, Souvenirshop und einer kleinen Ausstellung. Ein schmaler Korridor führt hinab in den Untergrund. Die eigentliche Muschelgrotte besteht aus einem gewundenen Gang, der sogenannten Schlangen-passage, der zu einer rechteckigen Kammer führt. Der "Altarraum" ist 4,60 Meter hoch und 6,10 Meter lang, es gibt dort eine Wandnische, aber keinen Altar. Die unterirdischen Räume sind aufwendig mit 4,6 Millionen Muschelschalen dekoriert. Das sieht schön aus, aber niemand kann bis heute erklären, was es eigentlich soll.

War die Grotte eine Art antiker Tempel für heidnische Rituale?

Die Höhle wurde 1835 von James Newlove, dem Direktor einer Jungenschule, entdeckt. Beim Ausheben eines Ententeichs auf einem Acker klaffte plötzlich ein großes Loch vor ihm im Boden. Newlove schickte seinen Sohn Joshua als Späher hinein. Als der Junge wieder ans Tageslicht kam, erzählte er seinem Vater von einem wunderlichen Ort mit Wänden voller Muscheln. Wie sich herausstellte, gab es unterirdische Gänge mit einer Länge von gut 20 Metern, mehrere Räume und eine Kuppel. Alles war bedeckt mit einem Mosaik aus Muscheln und Schnecken - eine Fläche von gut 180 Quadratmetern, voller Symbole und Ornamente. Der Entdecker stellte sich Fragen: Wer hat diese Höhle ausgeschmückt, wann und warum? 1838 öffnete Newlove die Grotte für Besucher, und seitdem zerbrechen sich Historiker den Kopf, was es mit den Muschelmosaiken auf sich haben könnte.

Die Grotte scheint künstlich in das kalkhaltige, weiche Gestein hineingegraben worden zu sein. Aber zu welchem Zweck? Handelt es sich um einen antiken Tempel, der für heidnische Rituale benutzt wurde? Ein Ort, der einem Geheimbund als Treffpunkt diente? Ein besonders skurril dekorierter Weinkeller eines spleenigen Adeligen? Die Mosaike geben keinen Hinweis auf die Verwendung des Raums. Muschel- und Schneckenschalen bilden geometrische Muster, es sind Blumenornamente, Sterne, Herzen, Bäume und abstrakte Formen zu sehen, die Deutungen in viele Richtungen zulassen. Manche Motive wurden als Widder oder Eule, Lilie oder Tintenfisch gedeutet. Christliche Symbole oder Adelswappen sucht man vergeblich.

Fast alle in der Grotte verwendeten Schalen stammen von Schalentieren, die an den Küsten Südenglands vorkommen: Miesmuscheln, Herzmuscheln, Kammmuscheln, Scheidenmuscheln und Austern, zudem Wellhornschnecken, Napfschnecken und Seeigelskelette. Besonders zahlreich sind die kleinen, rundlichen Schalen der Stumpfen Strandschnecke (Littorina obtusata), die das Hintergrundmuster der Mosaike bilden. Die wenigen nicht in England heimischen Arten finden sich im Altarraum: Riesen-Flügelschnecken aus der Karibik und Riesenmuscheln aus dem Indischen Ozean. Demzufolge ist die Grotte wohl eher in der Neuzeit entstanden, als britische Soldaten und Kaufleute rund um die Welt segelten und exotische Muscheln als Souvenir mitbrachten.

Seriöse Forscher und Hobbymystiker haben über die Jahre jede Menge Erklärungsversuche zur Muschelgrotte entwickelt. Darunter auch die These, dass es sich um einen phönizischen oder römischen Tempel handele, eine Schatzkammer von Piraten, ein Schmugglerversteck oder ein Kunstprojekt. Fast alle dieser Theorien wurden verworfen. Gegen einen römischen Ursprung sprechen die Architektur der Grotte und die untypische Motivauswahl der Mosaike. Etwas fundierter erscheint die Erklärung von Mick Twyman, Mitglied der Margate Historical Society, der 2006 darlegte, dass die Grotte im 12. Jahrhundert vom Templerorden erbaut wurde. Der Altarraum sei ein Tempel für Freimaurerrituale, schreibt Twyman. Schriftliche Beweise und wissenschaftlich haltbare Belege dafür gibt es aber nicht. Gegen den Templerorden spricht, dass in der Grotte jegliche christliche Symbolik fehlt. Und Muscheln aus der Karibik und dem Indischen Ozean wären kaum mit dem 12. Jahrhundert vereinbar.

Die Kent Archaeological Society wiederum verbreitet die These, dass es sich um eine Kalkmine aus dem Mittelalter handelt, die im 17. oder im 18. Jahrhundert erweitert und dekoriert wurde. Vielleicht war der Urheber der Mosaiken ein Fan romantischer Gartenbaukunst, die in England im 18. Jahrhundert in Mode war. Wer etwas auf sich hielt, errichtete in seinem Park einen sogenannten "Folly". Follies sind Zierbauten, die der Inszenierung der künstlich geformten Landschaft dienten: bewohnbare Türme, künstliche Ruinen, pseudorömische Aquädukte, tempelartige Pavillons, Brücken und Grotten. Vielleicht fand ein Gartenfreak es einfach schick, sich in mühevoller, jahrelanger Kleinarbeit einen unterirdischen Muscheltempel zu bauen. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass es auf dem Gelände, wo sich die Höhle befindet, früher mal einen Park, ein Schloss oder zumindest einen Landsitz eines verschrobenen Lords gab. Das Geheimnis der Grotte bleibt also weiter im Dunkeln.

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