Dem Geheimnis auf der Spur:Wilder Mann

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Die spanischen Eroberer stießen auf Teneriffa auf einen Mann, der seltsam behaart war. Sie verschenkten ihn an den französischen König Heinrich II. Wer war dieser ''Tiermensch''?

Von Helmut Mauró

Als die Spanier die Kanarischen Inseln eroberten, stießen sie gerade auf Teneriffa auf ein besonders widerstandswilliges Volk. Aber irgendwann mussten auch die letzten Inselbewohner klein beigeben und wurden mit roher Gewalt aus ihrem Paradies verabschiedet. Die jungen Männer schleppte man in Ketten auf Sklavenmärkte. Einen aber verschonte man, er war noch sehr jung und gar zu kurios. Man wusste nicht recht, ob es ein Tier oder ob er ein Mensch war. Er war von oben bis unten behaart, sogar auf der Stirn. Was man heute als Werwolf-Syndrom, Ambras-Syndrom oder medizinisch korrekt als Hypertrichose bezeichnet, war im ausgehenden 16. Jahrhundert ein Indiz dafür, dass es sich hier eher um ein Tier als um einen Menschen handelte.

Oder um ein Zwischending, das sich wegen seiner Seltenheit vorzüglich für die Kuriositätensammlung reicher Fürsten eignete, die sich geradezu einen Wettbewerb lieferten, nicht nur mit Meisterwerken der bildenden und performativen Künste, sondern auch mit exotischen Preziosen zu glänzen. Und so kam es, dass der Knabe Pedro Gonzales - später nannte er sich "Don" wegen seiner Abstammung von einem Insel-Häuptling - 1547 als Geschenk am Hof des französischen Königs Heinrichs II. landete und dort im Park von Fontainebleau als eine Art Affenmensch gehalten wurde.

Hübsch sei er, kann man lesen, auch wohlriechend. Später durfte er sogar heiraten, und zwar die unbehaarte Catherine Raffelin, mit der er sieben Kinder zeugte; fünf davon ebenfalls behaart: Enrico, Orazio, Francesca, Maddalena, Antonietta. In den 1580er-Jahren, spätestens 1591, übersiedelte die Familie an den Hof von Ranuccio Farnese. Nun hieß er Don Pietro Gonzales Selvaggio, der Wilde, und bekam sogar einen eigenen Diener. Damit stand er über dem Gesinde, war aber längst nicht frei. Er wohnte auch nicht im Schloss, sondern, wie schon in Frankreich: im Garten. Als Teil der Fauna? Es gab keine Kategorie für ihn, aber man betrachtete ihn nicht mehr nur als Tier.

Götter und Tiere haben schärfere Sinne als der Mensch

Wobei die Nähe zum Tier nicht durchweg als abwertend galt. Der Maler Agostino Carracci zeigt in seinem scherzhaften Gemälde "Arrigo peloso, Pietro matto, Amon nano et altre bestie" das friedliche Zusammenleben von exotischen und heimischen Tieren sowie unbehaarten Menschen und, im Mittelpunkt, eines behaarten. Modell stand ihm Enrico Gonzales, der Sohn von Pedro. Der barocke Symbolismus ist eindeutig, die geistige Nähe zu Montaigne und Demokrit naheliegend. Letzterer sagte einst, Götter und Tiere hätten schärfere Sinne als der Mensch, und dieser habe die meisten Künste wie das Spinnen, Weben, Bauen und Musizieren von den Tieren gelernt. Carracci hat in dieser Zeit auch ein Porträt Demokrits gemalt.

Als Einzeldarstellung ist es vor allem Don Pedro, der den Eifer der Maler entfachte. Ein unbekannter Künstler am Hof Wilhelm V. von Bayern malte Pedro in Lebensgröße, dessen unbehaarte Frau und die beiden behaarten Kinder, ein siebenjähriges Mädchen und einen etwa dreijährigen Buben. Wilhelm gab die beiden Gemälde an seinen Onkel, den Tiroler Erzherzog Ferdinand II., der sie - nach Anfertigung zahlreicher Kopien, auch in Miniaturform - seiner Gemäldegalerie auf Schloss Ambras bei Innsbruck einverleibte. Daher stammt die Bezeichnung Ambras-Syndrom, dieser sehr seltenen Form einer positionsgenetischen Variante, die den ungewöhnlichen Haarwuchs auslöst. Bisher sind nur 50 Patientenfamilien bekannt; die Gonzales gelten als die erste.

Die herausragendste Darstellung stammt wohl von der Malerin Lavinia Fontana

Die neben Carracci herausragendste und darüber hinaus berührendste Darstellung eines Gonzales ist ein Gemälde der jungen Antonietta von 1595. Geschaffen hat es wahrscheinlich Lavinia Fontana, eine der erfolgreichsten Porträtmalerinnen Bolognas und später auch Roms, ermutigt und ausgebildet durch ihren Vater, den Maler Prospero Fontana, unterstützt durch ihren Ehemann, den Maler Gian Paolo Zappi, gefördert von den Päpsten Gregor XIII. und Clemens VII.

Es ist ein beeindruckendes Bild. Die junge Antonietta, in der Bildüberlieferung auch als Tognina Gonsalvus firmierend, rundum im Gesicht behaart, steckt in feinem Seidengewand und hält, als wäre es eine Beglaubigung ihres Menschseins, eine Art urkundlichen Brief in Händen. Sie schaut knapp am Betrachter vorbei nach unten, gleichsam innerlich triumphierend, und doch unsicher, ob dieses Papier ihr jenen Respekt garantieren würde, der den meisten anderen Menschen wie selbstverständlich qua Geburt zugestanden wird.

Indirekt ist es auch eine Schutzurkunde, denn hier wird angezeigt, wem ihr Vater gehörte und damit auch sie: "Don Pietro, ein wilder Mann, den man auf den kanarischen Inseln entdeckte, wurde seiner Hoheit Heinrich, König von Frankreich, überbracht, und von dort kam er zu seiner Exzellenz, dem Fürsten von Parma. Von diesem kam ich, Antonietta, und nun bin ich nebenan am Hof der Donna Isabella Pallavicina, der ehrenwerten Fürstin von Soragna."

Es ist die kindliche Haltung unwissenden Stolzes, mit der sie diesen Brief ins Bild hält. Sie ist nicht frei, aber auch nicht gefangen. Eine geschütztere Stellung als an einem Fürstenhof hätte Antonietta wohl kaum erreichen können. Dort herrschte eine von neugieriger Toleranz und selbstverständlicher Arroganz bestimmte Lebenswirklichkeit, in der auch die krasseste Abweichung kein Grund für Misshandlung war. Vorausgesetzt, man war auch als Tiermensch einigermaßen hochwohlgeboren und fügte sich.

© SZ vom 18.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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