Dem Geheimnis auf der Spur:Wandazirkus

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Jahrelang rätselte Kalifornien: Wer schrieb die mysteriösen Leserbriefe unter dem Pseudonym "Wanda Tinasky"?

Von Sofia Glasl

Es ist schon ein Kreuz mit dem Leben als Phantom. Versucht man, wie der US-Kultautor Thomas Pynchon, über Jahrzehnte hinweg anonym oder vielmehr inkognito zu bleiben, gerät man schnell in Identitätskrisen. Pynchon ist ein wandelnder Widerspruch: Kaum jemand weiß, wie er aussieht, doch jeder hat schon mal von ihm gehört, selbst die Simpsons. In bisher drei Folgen der Animationsserie hatte der Autor ohne Gesicht einen gezeichneten Cameoauftritt und trug jeweils eine Papiertüte überm Kopf, um sein Geheimnis zu wahren. Die Fangemeinde Pynchons brennt darauf, ihn zu enttarnen und zugleich seine Anonymität zu schützen.

Mitte der Achtzigerjahre muss es ihn sehr hart getroffen haben, dass seine Existenz gleich ganz bezweifelt wurde. Damals trieb eine Leserbriefschreiberin im nordkalifornischen Mendocino County ihr Unwesen, die 1986 fast beiläufig angab, Thomas Pynchon und der Autor William Gaddis seien identisch. Dessen 1955 erschienener Roman "Die Fälschung der Welt" handelt von einem Kunstfälscher. Eine so steile Behauptung erfordert ordentlich Chuzpe und warf die Frage nach der Urheberin auf. Wanda Tinasky nannte sich die Dame und schrieb zwischen 1983 und 1988 über achtzig Briefe, die erst im Mendocino Commentary erschienen, später im Anderson Valley Advertiser, der am 25. Januar 1984 den ersten Brief druckte. Wanda wähnte sich hier sofort zu Hause, als ihr beim Aufschlagen der Ausgabe ein Zitat von Joseph Pulitzer auffiel: "Newspapers should have no friends - Zeitungen sollten keine Freunde haben." Das sprach für die inhaltlich-kritische wie wirtschaftliche Unabhängigkeit der Zeitung.

In regelmäßigen Abständen philosophierte und wetterte Tinasky hier über diverse Themen von immenser Bandbreite, die sie gewitzt mit popkulturellen Überlegungen verknüpfte. Sie benannte Machtmissbrauch und Dummheit so unterhaltsam wie klug, sprach etwa im Juni 1984 unverblümt über die Politikverdrossenheit der Amerikaner angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahl oder über Joe Bidens plagiierte Rede im Wahlkampf 1987, die ihn zum Rückzug von der Kandidatur zwang. Erstaunlich aktuell liest sich das, ebenso die Bemerkungen zur Rolle der Presse in der Demokratie. Wachsamkeit und Widerspruch seien da Pflicht. Im Januar 1985 übte sie scharfe Medienkritik und meinte augenzwinkernd: "Die ganze Fernsehindustrie ist vermutlich eh in der Hand von Kommunisten, die von Moskau finanziert werden. Fernsehen ist ihre Geheimwaffe, um das amerikanische Volk zu zerstören." An selber Stelle versucht Wanda, dem Herausgeber Bruce Anderson eine investigative Recherche anzudrehen, um ihm zum Pulitzer-Preis zu verhelfen. Auch dachte sie über Brechts Verfremdungstheorie oder Religionsfreiheit nach.

Wandas Identität hingegen blieb unklar, denn über sich selbst gab sie damals nur wenige Eckdaten preis. Danach sei sie eine etwa achtzigjährige Obdachlose, die unter einer Brücke außerhalb von Fort Bragg in Kalifornien lebte. Sie sei eine jüdische Auswanderin aus Weißrussland und habe sich über sechzig Jahre hinweg mit den Veröffentlichungen des Reader's Digest weitergebildet. Eine witzige, aber doch etwas fadenscheinige Identität.

Und die Behauptung, Thomas Pynchon sei nur ein Pseudonym von William Gaddis? Die Literaturwissenschaft nahm davon zunächst kaum Notiz, doch 1990 erinnerte sich Bruce Anderson daran. Mit Erscheinen von Pynchons viertem Roman "Vineland" fiel es ihm wie Schuppen von den Augen - Pynchon mit seinen Sprachmanierismen, seinem Witz und seiner Themenvielfalt musste Wanda Tinasky sein! Auch Pynchons politische Anspielungen schienen Wandas Weltsicht zu spiegeln. "Vineland" spielt nur einen Katzensprung vom Anderson Valley entfernt. Seine Recherchephase passte genau in die Zeit, zu der Tinasky sich in Mendocino County aufhielt und aus ihrer Umgebung berichtete. Auch Wandas Besessenheit vom Pulitzer Preis ließ sich an Pynchon knüpfen, der 1974 den Preis für "Die Enden der Parabel" nicht bekam, weil sich ein Beratergremium gegen die Juryentscheidung gestellt hatte. Anderson veröffentlichte seine Vermutung im Advertiser. Es folgte geradezu ein Identitätskrieg. Pynchon ließ alles von seiner Frau und Agentin Melanie Jackson dementieren und verbot, eine angekündigte Veröffentlichung der gesammelten Briefe namentlich mit ihm in Verbindung zu bringen. Über Jahre ging das Pingpong, niemand wollte Wanda Tinasky gewesen sein.

Abgesehen von der ungeklärten Autorschaft sind die Briefe eine mehr als unterhaltsame Lektüre, ein Zusatzapparat zu Pynchons "Vineland", der Kontext, Lokalkolorit und Hintergrundinformationen mit dem Roman vernetzt und zugleich indirekt den intellektuellen Kampf des Anderson Valley Advertiser dokumentiert, gegen Korruption, Anmaßung, Medienmanipulation und Umweltsünden. Das ist angesichts der Reaganomics, aber auch des heutigen Trumpismus, eine mehr als ehrenwerte Geste.

Im Jahr 2000 legte der Literaturwissenschaftler Don Foster, der immerhin Joe Klein als den Autor des anonym veröffentlichten Romans "Mit aller Macht" enttarnt hatte, sein Buch "Author unknown. On the Trail of Anonymous" vor. Darin belegt er, dass der Schriftsteller Tom Hawkins die Tinasky-Briefe verfasst habe. Textanalysen und auch der Fund von Hawkins' Schreibmaschine und Notizen einige Jahre später untermauern diese These. Auch das abrupte Ende der Einsendungen 1988 lässt sich nun erklären - Hawkins tötete im Affekt seine Ehefrau und stürzte sich anschließend im Auto von einer Klippe. Bevor Foster seine Ergebnisse veröffentlichte, schickte er sie an Melanie Jackson. Ein persönlicher Dankesbrief von Thomas Pynchon folgte. Zumindest dieser ist tatsächlich von Pynchon.

© SZ vom 09.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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