Schriftsteller Thomas Pynchon:Das Phantom

Thomas Pynchon

Dies ist eins der seltenen Fotos aus seiner Jugend. Wie Thomas Pynchon jetzt aussieht, ist nicht bekannt.

(Foto: Foto: oh)

Es gibt kaum Bilder von ihm, und öffentliche Auftritte hat er sowieso immer vermieden - die Bücher allerdings, die muss jemand geschrieben haben: Der US-Schriftsteller Thomas Pynchon ist eine der rätselhaftesten Gestalten des Literaturbetriebs.

Von Willi Winkler

Auf den wenigen Bildern, die es von ihm gibt, ist er unsterblich jung, ein Knabe mit hasenhaften Zähnen, schadhaft womöglich schon früh, deshalb musste später ein Schnurrbart drüberwachsen, aber was wusste man sonst schon von ihm? Dass er aus bester neuenglischer Familie kam, zur See gefahren war und in Cornell erst auf Ingenieur und dann Literaturwissenschaften studiert hatte, bei Vladimir Nabokov angeblich, der sich jedoch nicht an ihn erinnern wollte, dessen Frau aber wenigstens die Handschrift des Studenten nicht vergessen hatte. Kärglichste Spuren insgesamt; die Fotos im Schuljahrbuch konnten kaum als Lebenszeichen gelten. Thomas Pynchon ist kein Schriftsteller, sondern ein Phantom.

Mit einem Kopf voller Romane (ja, so muss es gewesen sein) verließ er die Uni, ging aber nach Seattle als Redakteur einer Firmenzeitschrift der Boeing-Werke. Dann verschwand er von der Bildfläche, trieb sich angeblich in Mexiko herum oder wenigstens im blumenkindlichen Kalifornien, aber es fehlte nicht an Geschichten, in denen er wie der tote Elvis irgendwelchen Verehrern leibhaftig erschienen sein soll. Detektive wurden auf ihn angesetzt, Paparazzi wollten ihn abschießen und wussten dabei gar nicht, wie er aussah. Als ihn ein Fernsehsender tatsächlich vor der Kamera hatte, rief er beim Chef an und bat darum, ihn in Ruhe zu lassen. No photo, please. Ein Schlaumeier kam auf die Idee, Pynchon müsste identisch mit J. D. Salinger sein, der in den Sechzigerjahren ebenfalls verschwunden war und nichts mehr veröffentlichte - oder eben das, was unter dem Namen Pynchon in die Welt kam: "V.", "Die Versteigerung von No. 49", "Gravity's Rainbow - Die Enden der Parabel". Prompt meldete sich das Phantom aus dem Untergrund oder woher auch immer: "Nicht schlecht, versucht es weiter."

Es gibt keine Bilder, aber die Bücher, und irgendwer muss sie ja geschrieben haben. Es sind die intelligentesten, vertracktesten, finstersten und zugleich lustigsten Bücher, die es gibt, voller tiefer Gedanken und übelster Zoten. Vaudeville-Songs wechseln mit Emily-Dickinson-Zitaten, Philosophisches folgt auf astreinen Blödsinn. Gern belächelt der Europäer die mangelnde historische Tiefe der Amerikaner, höhnt über Oberflächlichkeit und McDonaldismus, das Mickymausige allen Treibens, über das wie zur Bestätigung ein orangener Kindkaiser herrscht. Aber hier ist einer, der sich alles zusammengesucht hat, was es an Weltwissen gibt, der in der Nautik genauso brilliert wie in der Quantenphysik, der die Nullstellen in der Riemannschen Zeta-Funktion herbeten kann und überhaupt mit einem solchen Kenntnisreichtum auch der nebensächlichsten Details auftrumpft, dass gleich mehrere Universalgelehrte dafür in seinem Schreibkeller roboten müssten.

In den "Simpsons" trägt er eine Tüte auf dem Kopf

Was oder wer ist dieser Pynchon denn dann? Mathematiker? Philosoph? Eine Mischung aus James Joyce und Charles M. Schulz, dem die Welt die Peanuts verdankt? Als er 1974 für "Gravity's Rainbow" den Pulitzerpreis erhalten sollte, lehnte der Vorstand die Entscheidung der Jury ab, weil das Buch unlesbar und "obszön" sei. Das war scharf beobachtet, denn eine Hauptperson mit dem eingängigen Namen Tyrone Slothrop wird plötzlich kriegswichtig, weil der Soldat jedes Mal eine Erektion bekommt, wenn im Blitzkrieg eine V-2 in London einzuschlagen droht. Es ist aber auch der Roman, der zum ersten Mal ausführlich den Völkermord an den Hereros im damaligen Deutsch-Südwestafrika als Auftakt zum Holocaust schildert.

Lang bevor Bill Gates in seinem Schuhkarton hockte und an ersten Programm-Synapsen bastelte, saß in der kleinen Stadt Ithaca weit oben im Staat New York ein Student an seinem Schreibtisch und begann damit, die Welt zu enträtseln, indem er sein eigenes Großrätsel entwarf. Im Schatten der allzeit drohenden Atombombe entfaltete sich das pynchoneske Werk, das bei seinen eigenen Vorfahren in der Hexenverfolger-Stadt Salem beginnt, die Zeit der Aufklärung rekonstruiert, gegen den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts die anarchistischen Terroristen feiert und die verlorenen Träume der Hippie-Jahre nicht vergisst.

Gleichzeitig hat der Leser das Gefühl, dass Pynchon es einfach nicht ernst genug meint, dass er ihm etwas vorgaukelt, diese ganze fantastische Inszenierung mit weltumspannenden Verschwörungen und den Abenteuern in der Luft und im unentdeckten Wilden Westen nur ein gigantisches Illusionstheater ist, aber wenn es anders wäre, wäre es nicht von Thomas Pynchon. Dann könnte er genauso gut Teil des alles verzehrenden Literaturbetriebs sein, dem er jahrzehntelang erfolgreich entgangen ist. Stattdessen ließ er sich bei einer Preisverleihung von einem Comedian vertreten, der die Zuhörer so erfolgreich mit faktoidem Unsinn zuschwallte, dass sich alle sicher waren, den echten Pynchon vor sich zu haben.

Matt Groening, der Erfinder der Fernsehserie "Die Simpsons", versichert, dass es ihn wirklich gibt; er habe ihn gesehen, sich auch länger mit ihm unterhalten, sich seine Bücher signieren lassen. Pynchon tauchte tatsächlich mehrmals in den "Simpsons" auf, stilgerecht mit einer Papiertüte über dem Kopf, und hat sich selber gesprochen, ja, sich sogar über sein eigenes Versteckspielen lustig gemacht.

Inzwischen ist er 83, und er spielt weiter. Nach allem, was man weiß, lebt er in New York, ist mit einer der wichtigen Literaturagentinnen verheiratet und hat einen Sohn. Noch immer lässt er sich nicht fotografieren, er geht in keine Talkshow, er macht keine Lesungen, er schreibt einfach und zwar die schwierigsten, wahrscheinlich auch die besten Bücher, die es zu lesen gibt. Thomas Pynchon ist ein Phantom. Gut, dass es ihn trotzdem gibt.

Dieser Text erschien zuerst in der SZ vom 13.06.2020.

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