Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Begabt oder erlernt

Musikalität erscheint angeboren, man hat sie geerbt, sagen die einen. Andere meinen, sie wird diszipliniert anerzogen, durch aufopferndes Üben bis auf den höchsten Stand der Virtuosität. Über ein Mysterium.

Von Wolfgang Schreiber

Es sungen drei Engel einen süßen Gesang, mit Freuden es selig in dem Himmel klang", knittelreimt ein Frauenchor und lacht weiter, "sie jauchzen fröhlich auch dabei, dass Petrus sei von Sünden frei". Das kindische Lied aus "Des Knaben Wunderhorn" schob Gustav Mahler in seine 3. Symphonie: "Lustig im Tempo und keck im Ausdruck" wollte er es hören. Knabenstimmen imitieren dazu Glocken, "Bimm-bamm-bimm-bamm". Harfen, Holzbläser und ein Glockenspiel lassen die Klänge funkeln. So raffiniert einfältig, schräg "musikantisch" komponierte Mahler die Abenteuer mit den Himmlischen. Denn alle Irdischen sollen Musik verstehen, also auch Jazz- oder Pop-Fans, überhaupt alle auf dieser Welt. Keineswegs nur Tonexperten klassischer Musik.

Weihnachten macht aus dem Prinzip "Musikalität", mit Engelstimmen und Hirtengesang, nicht nur für Christen eine existenzielle Erfordernis, deren Art und Weise wenig eindeutig erscheint und wesentliche Fragen offen lässt: Wie wird Musik verstanden oder missverstanden? Was unterscheidet den rationalen Zugang zu ihr von einem emotionalen Erleben? Ist Musikalität eine persönliche Gabe und Gnade oder nur eingeübte Hör- und Kunstfertigkeit?

"Jeder Mensch ist musikalisch begabt, die einen mehr, die anderen weniger", sagte der Musikpsychologe Heiner Gembris. Niemand muss also argwöhnen, im "Musikalisch-Sein" stecke ein Mysterium. Denn Musik hören, empfinden und nachfühlen, sie erfahren, verstehen und erleben, das entspreche schlicht der menschlichen Natur. Ein musikalischer Mensch sei jedenfalls der, der beim Singen die Töne genau trifft, der ein Instrument makellos spielt - ein Können, keine Rätselaffäre.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Gutachten führen ins Spekulative: Musikalität erscheint angeboren, man hat sie geerbt, sagen die einen. Sie wird diszipliniert anerzogen, durch aufopferndes Üben bis auf den höchsten Stand der Virtuosität, meinen die anderen. Oder aber es gilt: Musikalisch sein bezieht sich auf Expertise, Kennerschaft. Eine Musikerin, ein Musiker kann exzellent singen und spielen, weil sie die Klangverhältnisse, die Struktur und den Charakter der Musik, ihre melodischen und rhythmischen Formgesetze, begreifen und umsetzen.

Der Vater Geiger, die Mutter Pianistin

Den meisten der gerühmten Klassik-Musiker ist das musikalische Erbe in den Schoß gefallen. Wer die Lebenswege anschaut, etwa von Claudio Abbado und Daniel Barenboim oder von Carolin Widmann und Igor Levit, findet die Spuren frühkindlicher Musikbildung, die die Karriere bestimmt: Sie wuchsen im Kreis ausübend "musikalischer" Eltern auf. Musizieren und Musikhören seit zartem Kindesalter war wohl eine anstrengende, fordernde, doch "spielerisch" beglückende Familienangelegenheit. Etwa nach dem Muster: Vater Geiger oder Chorleiter, Mutter Pianistin, Klavierlehrerin. Anders als in Malerei, Literatur oder Architektur: Das Studium von Violine, Klavier oder Klarinette braucht die frühe Einübung.

Doch der Musikelite gegenüber gerät die intuitive musikalische Empfindung nicht gleich ins Hintertreffen. Der Laie darf dem Experten Paroli bieten. Auch der "unwissende" Hörer kann den internen Verhältnissen einer Beethoven- oder Brahms-Symphonie nachspüren, den Wechselspielen von Spannung und Entspannung, Kontrast und Linearität, den zwischen Harmonie und Dissonanz angelegten Provokationen. Mehr nachfühlend als erforschend, oft verunsichert selbstkritisch: Ja, das Klavierspiel des Pianisten war großartig, heißt es dann nach einem Konzert, "aber leider verstehe ich ja von Musik zu wenig". Hat der Besucher deshalb schlecht oder "falsch" gehört?

Das seltsame Hörer-Ranking des Musiksoziologen Theodor W. Adorno umfasst acht "Typen musikalischen Verhaltens". Die Palme des besten Hörvermögens bekam der Experte, der "voll bewusste Hörer, dem nichts entgeht". Ihm folgen der "gute Zuhörer", darauf der "emotionale Hörer", am Ende immerhin auch der "Typus des musikalisch Gleichgültigen, Unmusikalischen und Antimusikalischen". Doch die Frage müsste lauten: Ist der Experte auch schon der gute musikalische Zuhörer? Der Verdacht beschleicht einen, dass das komplette Wissen über die musikalischen Werke und Zusammenhänge mit der minutiösen Einsicht in die Partituren, dass die umfassende Hörerfahrung, die zu ausdauernden Interpretationsvergleichen der "Waldstein-Sonate" und der "Appassionata" führt, dass sogar präziseste Kenntnisse der Musik vielleicht nicht den Kern des Musikalisch-Seins treffen.

Der musikalisch Empfindsame muss nicht professionell hören. Ja, er kann die Musik lieben, ohne sie zu verstehen: beispielsweise die Gesetze der Zwölftonmusik, die Sonatensatz-Bedeutung von Dominante und Subdominante, die Beschaffenheit der Beethovenschen Metronomzahlen oder das vokale Wesen der "messa di voce". Schön, wenn er davon weiß, umso umfassender lässt sich der Musik folgen. Nur, sein Hören kann auch ohne das Wissen zutiefst musikalisch sein.

Was heißt das also: Musik verstehen? Es ist weder dem absoluten Gehör noch einer spezialisierten Bildung vorbehalten. Auch keiner gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Sergiu Celibidache, der große Dirigent und Schallplatten-Verächter, verortete die Kraft musikalischer Beredtheit weit über allem widersprüchlichen Sprechen, ja Denken. Hier und jetzt und dreidimensional im Raum soll Musik ertönen. Und ja, musikalisch sei sogar, wer in der Dusche spontan, ohne etwas darüber zu wissen, sein Lied singt - und nicht unbedingt der, der alle Symphonien des 19. Jahrhunderts im Kopf hat.

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Quelle:
SZ vom 24.12.2020
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