Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Alligatoren im Rohr

Seit Jahrzehnten hält sich die Legende, dass in der New Yorker Kanalisation riesige Reptilien ihr Unwesen treiben. Über die seltsame Faszination der Großstädter für Krokodile.

Von Carolin Werthmann

Krokodilbabys sind die neuen Hundewelpen. Das mochten sich New Yorker Florida-Urlauber gedacht haben, als sie ihren Sprösslingen im trauten Heim an der amerikanischen Ostküste einen lebendigen Mini-Alligator mitbrachten. Wobei man hinzufügen muss, dass nicht ganz klar ist, ob es jene Eltern und ihr ungewöhnliches Geschenk, das noch dazu sehr bald verschwinden sollte, wirklich gegeben hat. Klar ist nur, dass die Erzählung des Mitbringsels zu dem Mythos führte, in New York hausten seither Krokodile - in der Kanalisation.

Besagte Eltern überraschten ihre Kinder also mit einer Panzerechse, die Kinder freuten sich, der Alligator wurde größer, die Kinder freuten sich nicht mehr. Rein damit in die Toilette, hinunter mit der Spülung. Hundewelpen sind doch irgendwie süßer. Während die Familie glaubte, das Reptil ertränkt zu haben, rauschte es die Rohre der Abwasserkanäle entlang, hinab in den Untergrund. Es überlebte - und sitzt heute, so die Legende, in den tropfenden Gängen neben den Subways, verspeist Ratten, Müll, Hundeleichen und Kanalarbeiter, die das Pech haben, in seine Nähe zu kommen und büßen müssen, was Menschen dem Geschöpf angetan haben. Noch dazu soll das Untier ein blinder Albino-Alligator sein, ganz ausgebleicht wegen des fehlenden Sonnenlichts.

Das Krokodil, das im Februar 1935 unter einer Schneedecke lag, fand ein trauriges Ende

Was nach einer Steilvorlage für einen Horrorfilm klingt, hat sich über Jahrzehnte hinweg hartnäckig gehalten: Der Mythos hat einen derartigen Kultstatus, dass manch New Yorker sich gar einen inoffiziellen Feiertag zu Ehren des Kanalkrokodils wünscht. Am liebsten den 9. Februar.

Der Tag führt zurück in das Jahr 1935. Tatsächlich erschien zu dieser Zeit ein Artikel in der New York Times über eine Bande Jugendlicher, die im Stadtteil Harlem in der 123. Straße auf ein Krokodil gestoßen waren. Es lag über einem Schacht, acht Fuß lang und 125 Pfund schwer, das sind etwa zweieinhalb Meter und 56 Kilogramm, begraben im Schnee, von dem die Jugendlichen es befreiten. Wenige Augenblicke später mutierten die Erretter allerdings zu Totschlägern. Das Krokodil schnappte nach ihnen, und die Schneeschaufeln der Burschen wurden zu Tatwaffen. Ihre Hiebe überlebte das Reptil nicht.

Seine Herkunft blieb ein Rätsel, wenngleich das Gerücht über die Florida-Urlauber einer anderen These weichen musste. Das Tier soll ein blinder Passagier auf einem Schiff gewesen und über den East River und Harlem River an Land geschwommen sein. Dort angekommen, muss es sich wohl in die Kanalisation zurückgezogen haben. Die Begebenheit ließ vermuten, dass an den Kanal-Alligatoren durchaus etwas dran sein mochte. Vor allem war der 9. Februar 1935 nicht das einzige Datum, an dem Reptilien im städtischen Dschungel gesichtet wurden.

Schon 1907 berichtete die New York Times über einen Arbeiter in Kearny in New Jersey, etwa 20 Kilometer von Manhattan entfernt, der bei Kanalreinigungen von einem kleinen Alligator gebissen worden sein soll. Den ultimativen Beweis sahen Krokodiljünger dann in einem 1959 erschienenen Buch von Robert Daley, dem früheren stellvertretenden Polizeichef des New York City Police Departments. In "The World Beneath the City" lässt Daley den damaligen leitenden Beamten Teddy May zu Wort kommen, ein 84-Jähriger, der als passionierter Geschichtenerzähler galt. May berichtet, wie er während einer Inspektionstour durch die Kanalisation auf Alligatoren stieß. Er eröffnete die Jagd mit Rattengift und Gewehr und rettete die Menschheit vor dem Monster. Fantasterei, konstatierte Englischprofessor Jan Harold Brunvand von der Universität Utah in seinen Forschungen zu Folklore und urbanen Legenden. In dem Gully-Alligator sah er vielmehr eine Metapher für das Unsaubere und Unheimliche, das versteckt unter der Wohlstandsoberfläche des zivilisierten Lebens schlummert. Historiker Donald Reid hingegen erklärte sich den Mythos mit der Reue des Menschen: Das groß gewordene Krokodil im Dunkeln ist das hässliche Schuldgefühl, etwas weggeworfen zu haben, was einmal viel bedeutete. In der Tiefe, da lauert das Gewissen.

Aus biologischer Sicht, sagen Herpetologen, sei es gar nicht möglich, dass Alligatoren im schwarzen Abwasser überleben könnten, zumindest nicht über mehrere Jahre hinweg. Die Tiere lieben warme Umgebungen, der New Yorker Winter aber ist eisig und das Wasser schmutzig. Und dann wäre da noch das Vitamin D. Ohne Sonnenlicht produziert die Haut der Alligatoren zu wenig davon, was aber essenziell ist für die Knochenbildung. Sie würden unter Knochendeformationen und Muskelschwäche leiden und daran sterben.

Von der ganzen Geschichte profitierte insbesondere die Popkultur. Romanautoren und Filmemacher reizte die Idee der dreckigen, dunklen Kanalisation, in der das Ungewisse wacht. Thomas Pynchon lässt in seinem 1963 erschienenen Roman "V" den Helden als Krokodiljäger in die New Yorker Kanalisation absteigen. Der Endgegner des Computerspiels "Last Ninja 2" ist ein Krokodil im Kanal. Ein Kinderfilm von Warner und der Augsburger Puppenkiste führte den Begriff des "Kanaligators" ein, der Animationsfilm "Flutsch und weg" spricht für sich selbst, und in Stephen Kings Roman und dessen Verfilmung "Es" lugt ein böser Clown durch die Gullys, lockt kleine Kinder zu sich auf die dunkle Seite und frisst sie.

New York ist eine Metropole, die aufgeladen ist mit dem Versprechen grenzenloser Möglichkeiten. Ihre Gebäude reichen hoch in den Himmel, das gesellschaftliche Leben bis tief in den Untergrund. New York ist kosmopolitischer Höhepunkt und kriminelle Dunkelstadt, bündelt Erwartung und Überforderung. Würden Alligatoren unter Gullys da noch verwundern?

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SZ vom 28.03.2020
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