Debatte um Sterbehilfe:Gefährliche Melodie

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Aus Angst vor Pflegebedürftigkeit wird das Lied vom süßen Freitod gesungen: Doch die Heroisierung der Selbsttötung ist problematisch. Warum es darum geht, zu helfen und sich helfen zu lassen - und nicht um die eleganteste Abschiedszeremonie.

Ein Gastbeitrag von Franz Müntefering

Dass Menschen "lebenssatt" werden können, das ist wahr. Auch dass sie depressiv werden können, verwirrt, hoffnungslos, verzweifelt, ist wahr. Auch dass sie unendlich einsam sind und keinen Sinn mehr finden in ihrem Leben. Oder dass sie Angst haben vor aufziehender schwerer Krankheit, besonders vor großen Schmerzen. Alles wahr. Niemand wird ihnen vorwerfen dürfen, wenn sie den Tod herbeisehen oder aktiv suchen. Menschen töten sich selbst. Und Suizid ist nicht strafbar in unserem Land.

Trotzdem: Udo Reiters Plädoyer für aktive Sterbehilfe, das in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist, beunruhigt und empört mich. Ich widerspreche ihm, aber meine nicht nur ihn persönlich. Denn was da im Gange ist, ist nicht zu übersehen. Hier soll aus Angst vor dem unsicheren Leben ein sicheres Ende gesucht und der präventive Tod zur Mode der angeblich Lebensklügsten gemacht werden. Viele nicken beifällig, wenn die Geschichte vom süßen freien Tod erzählt wird. Die Heroisierung der Selbsttötung in manchen Medien - wenn sich die Person als Identifikationsmuster eignet - kommt hinzu.

Der Streit ist wohl fällig. Soll man Sterben als Teil des Lebens begreifen und es geschehen lassen, es erleben? Oder den Tod suchen, auch wenn die biologische Uhr noch nicht völlig abgelaufen ist? Die Grenzziehung kann schwierig sein. Unmöglich ist sie nicht. Das Wesentliche ist eindeutig.

Wir leben länger, werden deutlich älter als Generationen vor uns. Werden recht gesund (!) älter, das bedeutet gutes Leben obendrauf. Statt Morbiditätsexpansion also -kompression. Das aktive Leben verlängert sich, nicht das Sterben. Die Geburtsjahrgänge 1948 bis 1970 sind zahlreich, und so wird die Zahl der Alten und Hochaltrigen in den kommenden Jahrzehnten weiter wachsen: die der über 80-Jährigen von circa vier Millionen heute auf circa zehn Millionen im Jahr 2050. Das sind die deutschen Zahlen. Aber alles in allem sind wir - zeitverschoben - in Sachen Demografie nur Vorläufer für die Welt. Die Menschheit insgesamt wird älter in diesem Jahrhundert.

Die Trendsetter des süßen Todes

Wie werden wir und wie wird die Menschheit insgesamt mit diesem Älterwerden umgehen? Sind die Protagonisten des süßen Todes die Trendsetter? Nützlichkeitserwägungen und Perfektionssehnsucht vermischt mit Lebensüberdruss können sich zu einer gefährlichen Melodie vereinen: ganz oder gar nicht, super ist geil, weniger lohnt nicht.

"Ich möchte nicht als Pflegefall enden, der von anderen gewaschen, frisiert und abgeputzt wird. Ich möchte mir nicht den Nahrungsersatz mit Kanülen oben einfüllen und die Exkremente mit Gummihandschuhen unten wieder herausholen lassen. Ich möchte nicht vertrotteln und als freundlicher oder bösartiger Idiot vor mich hindämmern", schreibt Reiter.

Wenn Altsein wirklich so trottelig und wertlos ist und außerdem in seiner Massenhaftigkeit auch recht kostenträchtig - muss man dann den Menschen nicht rechtzeitig abraten davon und ihnen zum runden Geburtstag einen kostenlosen süßen Auf-immer-Einschlaftrunk andienen? Win-win? Die Erbenkonten werden nicht für Trotteligkeiten verplempert.

Das ist polemisch? Ja, und zwar zu Recht. Die Würde des Menschen hat nichts zu tun damit, ob er sich selbst den Hintern abputzen kann. Nichts damit, ob er bis 100 zählen und ob er sich erinnern kann. Es gibt Menschen, die können das nie, und solche, die können das nach Krankheiten oder Unfällen oder altersbedingt nicht mehr. Lebten sie nicht in Würde?

Freiheit ist immer auch die Freiheit des anderen. Welchen Respekt vor dem anderen zeigt denn der, der seinen Tod der "Trotteligkeit" und "Idiotie" vorzieht? Freiheit ohne Solidarität (früher nannte man das Nächstenliebe) gibt es nicht, denn dann wird sie zur Ungebundenheit, zur Isolation, zur Willkür. "Nachahmer wird es schon nicht so viele geben." Heißt ja wohl: Es sind nur wenige, die sich diesen Weg trauen, die Klugen, Sensiblen, Stärksten. Sollen die Trottel und Idioten doch hinvegetieren. Welche Arroganz.

Ist man als Dementer "ein Schatten seiner selbst"? Ja. Aber auch unglücklich, auch überflüssig, auch unwert? Da ist kein Protest zu lesen wegen unzureichender Forschung, wegen mangelnden Ehrgeizes Altersdemenz vorzubeugen, einzudämmen, zu minimieren. Die Mutlosigkeit, das beleidigte Sichabwenden von der Möglichkeit der persönlichen Betroffenheit, das Weglaufen vor der Herausforderung, das alles soll Liberalität sein? Was haben Menschen nicht alles erkämpft und möglich gemacht. Und nun sollten wir uns aus dem Staub machen und selbst wieder zu Staub werden, weil wir nicht das Selbstbewusstsein hätten, ein Glied in der Kette zu sein. Ich weiß, jeder Fortschritt hat seine Ambivalenz, ja, aber es gibt ihn.

Angst vor den Schmerzen. Vor dem grausam langen Sterben. Das ist ein Argument, wohl wahr. Aber unsere Palliativmedizin kann viel. Die Gesetze sind vorhanden, die Fähigkeiten auch, die Organisation und die Finanzierung hinken nach. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Aber um kämpfen zu können, muss man leben.

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Die Begleitung der Sterbenden

Mit der Patientenverfügung kann ich Einfluss nehmen, ob bei mir selbst um jede denkbare Sekunde Leben gekämpft wird, oder ob mein Sterben, wenn die finale Phase unumkehrbar und überschaubar ist, menschlich zu Ende begleitet wird. Palliativ gut versorgt sein, also nicht dauerhaft unter großen Schmerzen leben müssen, das ist medizinisch möglich und eine große Ermutigung. Längst nicht alle sind informiert und sich dieses Fortschritts bewusst.

Genauso wichtig sind die Hospize und ambulanten Hospizdienste. Es geht um die Begleitung der Sterbenden und derer, die um sie trauern. Es geht um die Phase, in der die Medizin nichts mehr anzubieten hat zur Heilung und zur wesentlichen Verzögerung des Sterbeprozesses. Die Hospiz- und Palliativangebote haupt- und ehrenamtlich sind dann Hilfe und Trost für alle Beteiligten und Betroffenen.

Mitleiden mit denen, die verzweifeln und zu oft nicht mehr aufzuhalten sind in ihrer Sehnsucht aufs Totsein - das ist wichtig. Genau deshalb ist es auch so wichtig, die größte Krankheit dieser zeitreichen Gesellschaft ernst zu nehmen und die triste, trostlose Einsamkeit allzu vieler zu beenden. Für sie Liebe zum Leben erfahrbar zu machen und ihnen Mut zum Leben zu vermitteln bis zum Ende. Die meisten, die am Baum oder vor dem Zug enden, leiden nicht an Lebensübersättigung, sondern eher an dieser Einsamkeit, an Verzweiflung und Angst. Zu helfen und sich helfen zu lassen, darum geht's. Nicht um die eleganteste Abschiedszeremonie auf Druckknopf.

Franz Müntefering, 73, war Bau- und Verkehrsminister im ersten Kabinett von Gerhard Schröder, später Chef der SPD-Fraktion, Bundesvorsitzender der Partei und als Arbeitsminister Vizekanzler unter Angela Merkel.

© SZ vom 03.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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