Im März 2006 veröffentlichten Hirnforscher der Universität Kalifornien in der Fachzeitschrift Neurocase eine Studie über ein "Gedächtniswunder" mit dem Pseudonym "AJ", das sich an jeden Tag seit Februar 1980 lückenlos erinnern könne. Wenig später wurde bekannt, dass es sich bei "AJ" um Jill Price aus Los Angeles handelt; seitdem beschäftigt die 45-jährige Amerikanerin, die als Geschäftsführerin einer Privatschule arbeitet, die Phantasie der Menschen. Wissenschaftler priesen den Fall Price als einmalige Chance für die Erforschung des menschlichen Erinnerungsvermögens, über dessen Funktionsweise bis heute wenig bekannt ist. Andere zweifeln die Gedächtnisleistung der Kalifornierin an. Die Ärzte von Price suchen derweil nach vergleichbaren Fällen, um ihre Studie valider zu machen, vier weitere Personen mit ähnlichen Fähigkeiten sollen gefunden worden sein. Eine wirkliche Erklärung für die Besonderheit des Gehirns der Amerikanerin bleibt die Forschung hingegen bisher schuldig. Seit zehn Jahren nun steht Price, die seit dem Tod ihres Mannes allein lebt, unter ärztlicher Beobachtung. Im Interview erzählt sie, wie sie mit ihrem perfekten Erinnerungsvermögen lebt.
SZ: Hallo Mrs. Price, ich würde gerne mit ein paar Daten anfangen.
Price: Gern, ich bin es gewohnt, danach gefragt zu werden. Selbst von Bekannten. Manchmal nervt es, aber es ist okay.
SZ: Es heißt, Sie könnten genau sagen, was an einem beliebigen Datum seit ungefähr Ihrem 15. Lebensjahr passiert ist. Zum Beispiel am 19. Juli 1989?
Price: Ein Mittwoch, an diesem Tag verunglückte ein Flugzeug in Kansas. Im Fernsehen sah man später, wie die Maschine von der Landebahn abkam und in ein Feld schlingerte.
SZ: Wie genau erinnern Sie sich an diese Bilder?
Price: Ich habe sie in den Nachrichten gesehen, im Haus einer Freundin. Ich weiß noch, wie der Pilot aussah, dass einige Passagiere überlebten und dass es am Tag nach dem Mord an der Schauspielerin Rebecca Schaeffer passierte. Ein Stalker erschoss sie an ihrer eigenen Haustür. Ich sage aber gleich: Ich erinnere mich nicht an alles. Es geht hier um Dinge, die mit mir zu tun haben. Nicht, dass Sie denken, ich sei von Flugzeugabstürzen besessen gewesen. Aber eine gewisse Faszination übten sie als Kind schon auf mich aus.
SZ: Funktioniert es auch umgekehrt? Ein paar Jahre später explodierte eine 747 der Transworld Airlines in New York, nur zehn Minuten nach dem Start.
Price: Klar, das war der Flug TWA 800. Es passierte am 17. Juli 1996, übrigens ebenfalls ein Mittwoch.
SZ: Und die Katastrophe vom 4. Oktober 1992?
Price: Das war ein Sonntag, lassen Sie mich nachdenken. Ein Flugzeugunglück? Aber sicher nicht in den USA, oder?
SZ: Es war in Amsterdam. Dort stürzte eine El-Al-Maschine in ein Wohnhaus.
Price: Dann weiß ich es nicht. Ich habe es jedenfalls nie in den Nachrichten gesehen. Aber ich könnte ihnen sagen, was an diesem Tag sonst noch passiert ist. Ich war sehr traurig, weil mein Hund zwei Tage zuvor gestorben war, von Samstag auf Sonntag waren wir bei Freunden zu Gast und am Sonntag sind wir alle gemeinsam für ein Picknick an den Strand gefahren.
SZ: Offenbar erinnern Sie sich auch an scheinbar irrelevante Dinge. Können Sie erklären, wie Ihr Gedächtnis arbeitet?
Price: Vor allem funktioniert es autobiographisch. An alles, was mich persönlich angeht, was mit eigenen Erlebnissen oder denen von meiner Familie und Freunden verbunden ist, erinnere ich mich am besten. Die Bilder in meinem Kopf kann man sich wie einen vielfach unterteilten Fernsehschirm vorstellen. Dort laufen in einer Endlosschleife Filme parallel ab. Als hätten Kameras Episoden meines Leben aufgenommen, die nun zugleich abgespielt werden. Willkürlich und ohne nachvollziehbare Verbindung. Das kann die Erinnerung an das Papstattentat sein oder der Gedanke, dass es vor zwei Tagen 31 Jahre her war, dass ich Windpocken bekam.
SZ: Diese Filme im Kopf lassen sich nicht abstellen?
Price: Nein, seit ich denken kann, sind sie immer da, egal ob ich nun Auto fahre, Einkaufen gehe oder gerade mit Ihnen spreche, aber normalerweise schenke ich diesen Bildern keine Aufmerksamkeit.
SZ: Haben Sie sich diese Bilder irgendwann einmal bewusst eingeprägt?
Price: Nein, ich lerne dafür nichts auswendig. Es passiert. Ich weiß es eben.
SZ: Für den Alltag muss das mitunter auch praktisch sein.
Price: Nein, viele glauben, ich sei eine Art Lexikon oder hätte ein fotografisches Gedächtnis, aber das ist Quatsch. Vor allem bei Dingen, an denen ich nicht sehr interessiert bin, ist mein Erinnerungsvermögen eher unterdurchschnittlich. Auswendiglernen in der Schule, ob historische Daten, ein Gedicht oder Rollen für das Schultheater, war daher ein ziemlicher Albtraum. Und zum Einkaufen brauche ich bis heute eine Liste wie viele andere auch.
Training fürs Gehirn:Fit im Kopf
Sie vergessen ständig Telefonnummern oder Geburtstage? Wie Ihnen eine Achterbahn und ein Gartenzwerg dabei helfen können, Ihr Gedächtnis zu trainieren.
SZ: Sie arbeiten als Geschäftsführerin einer Privatschule.
Price: Richtig. Um nach einem Meeting alles Wichtige zu behalten, muss ich es anschließend notieren. Ich bin so organisiert, dass es mich selbst fast verrückt macht. Alles muss sauber und an seinem Platz sein. Jeder bei mir im Büro weiß, dass es ein Problem ist, wenn er diese Ordnung stört. Mein Schreibtisch ist heilig, und ich würde es merken, wenn jemand eine Büroklammer auch nur um einen Zentimeter bewegt. Warum das so ist, haben mir die Ärzte noch nicht gesagt. Aber ich habe schon mit drei Jahren im Puppenschrank alles peinlich genau angeordnet.
SZ: Wissenschaftler sagen, Ihre Erinnerungen seien so stark mit Emotionen verknüpft, dass jedes Bild jeweils sofort die mit dieser Situation verknüpfte Stimmung in Ihnen hervorrufen kann.
Price: Das trifft auf jede Erinnerung zu, egal, wie lange die Situation zurückliegt. Ich fühle mich jedes Mal wieder, wie ich mich exakt in dem Moment gefühlt habe.
SZ: Das klingt extrem anstrengend.
Price: Es kann auch ein netter Zeitvertreib sein. Wenn ich etwa beim Friseur unter der Trockenhaube sitze, dann blättere ich oft in diesem geistigen Tagebuch. Wie fühlte sich der Herbst 1981 an? Wie der von 1982? Jeder Tag ist anders, es ist auch schön, sich daran erinnern zu können.
SZ: Und dann sitzen Sie da unter der Trockenhaube und kichern und weinen abwechselnd im Sturm der Gefühle?
Price: Theoretisch ja. Ich kann das ganz gut kontrollieren. Aber es stimmt: Meine Erinnerungen sind extrem erschöpfend.
SZ: Beeinträchtigt das eigentlich Ihre Beziehung zu anderen?
Price: Ich verwende mein Gedächtnis bewusst nicht gegen meine Freunde. Natürlich registriere ich in Gesprächen Ungenauigkeiten in deren Erinnerung. Aber ich übergehe das. Warum sollte ich sie mit Besserwisserei beschämen?
SZ: Sie erinnern sich aber auch an Beleidigungen oder Streit besser.
Price: Ich bin zum Glück harmoniebedürftig und gehe Streit aus dem Weg. Natürlich kann ich Verletzungen nicht verdrängen wie andere. Aber was bringt es, wenn ich jemandem erzähle: Du hast damals diesen gemeinen Satz gesagt, ich sollte nicht mehr mit dir reden. Wenn ich am Leben der anderen teilhaben will, dann muss ich mich über solche Erinnerungen hinwegsetzen. Eine Einstellungssache.
SZ: Was ist Ihre erste Erinnerung?
Price: Ich habe zwei, drei eher vage Bilder aus der Zeit der Kinderkrippe. Mit 18 Monaten. Insgesamt könnte ich lange aus der Zeit bis zu meinem fünften Lebensjahr erzählen, allerdings noch ohne Daten zuzuordnen. Dafür kann ich zum Beispiel sehr genau unsere erste Wohnung in New York aus dieser Zeit beschreiben.
SZ: Wann stellten Sie fest, dass Ihr Erinnerungsvermögen anders ist?
Price: Als ich acht war, zogen wir nach Kalifornien. Das war wohl der Zeitpunkt, als meine Hirnaktivität sich stark veränderte. Denn von Juli 1974 an wird meine Erinnerung viel konkreter, bis sie ab Februar 1980 nahezu lückenlos wurde. Die Zeit bis Juni 1974 ist dagegen schemenhafter. Es lag wohl auch daran, dass der Umzug für mich traumatisch war. Ich liebte New Jersey, wo wir zuvor gelebt hatten. Und in Los Angeles fing ich plötzlich an, mein Leben zu archivieren, ich sammelte Fotos von Orten, schrieb Listen mit Freunden, ich hoffte, New Jersey in einem Notizbuch am Leben erhalten zu können, das ich immer mit mir herumtrug. Damals fing ich an, mich an alles zu erinnern.
SZ: Sie haben Tagebuch geführt, oder?
Price: Seit ich etwa elf Jahre alt bin, allerdings mit großen Lücken. Ich habe gerade zwei Jahre gar nicht geschrieben. Mir fehlte einfach die Zeit dazu. Ich hole das nach, das passiert öfter, es schwirrt ja alles noch in meinem Kopf herum.
SZ: Warum führen Sie überhaupt Tagebuch, wenn Sie sich eh an alles erinnern?
Price: Es gibt da ein großes Bedürfnis in mir, alles zu ordnen und festzuhalten. Es ist seltsam, weil ich es ohnehin später nie mehr lese. Und alles kann ich ja nicht aufschreiben, erstens erinnere auch ich mich nicht an jedes Detail. Und zweitens würde mir die Zeit fehlen, alles festzuhalten.
SZ: Haben Sie einen Arzt aufgesucht, weil Ihnen das alles seltsam vorkam?
Price: Ursprünglich hatte ich im Internet jemanden gesucht, der ähnlich tickte wie ich. Oder nach einem Buch zu diesem Thema. Bei meinen ersten Recherchen stieß ich auf meinen späteren Neurologen.
SZ: Sie sind bis heute gewissermaßen sein Forschungsprojekt.
Price: Ich war froh, endlich jemanden zu treffen, der analysierte, was in meinem Kopf vor sich geht. Und es war schmeichelhaft, der Grund dafür zu sein, dass ein ganzes Forscherteam ausflippte vor Begeisterung. Sie sagten, mein Fall sei einzigartig. Ich habe mich totgelacht. Als ich die Studie über mich las und der Arzt endlich einen Namen für meinen Fall erfand, habe ich geweint. Vor Erleichterung. Ich schrieb den Namen für das Syndrom auf ein Post it und klebte es an meinen Nachttisch: Hyperthymestisches Syndrom.
SZ: Wissenschaftler gehen davon aus, Ihr Fall habe bisher gültige Annahmen darüber umgestoßen, wie das Gehirn Erinnerungen speichert. Bisher ging man davon aus, dass wir uns vor allem an Dinge erinnern, die uns entweder besonders stark bewegen oder über die wir sehr oft sprechen, weil so Verlinkungen im Gehirn entstehen. Nun ist da plötzlich jemand, der bis heute genau weiß, was er am 2. Dezember 1981 in einem Lokal bestellt hat.
Price: Seltsam, oder? Weil ich mich einerseits nur an die Dinge erinnere, die mit mir selbst zu tun haben. Andererseits unterscheidet mein Gedächtnis nicht zwischen emotionalen und nichtemotionalen Erinnerungen. Da wird zum Beispiel der Verzehr einer Portion Pommes neben meiner Hochzeit und dem Tod von Prinzessin Diana abgespeichert. Wie drei Termine in einem riesigen Kalender. Das ist auch ein wenig beunruhigend. Weil man mit einem Blick auf diesen Kalender sehen kann, wie sehr eine beliebige Entscheidung von vor 25 Jahren unser Leben bis heute beeinflusst. Leider sind nicht alle Entscheidungen, die man im Leben trifft, gut.
SZ: Wie sind Ihre Mitmenschen mit Ihren Fähigkeiten umgegangen?
Price: Vor allem für meine Eltern war das oft nicht einfach. Weil ich ein extrem emotionales Kind war, ich habe ständig geweint und gejammert, hatte Ängste. Andererseits hat niemand mein Wesen oder mein Erinnerungsvermögen groß hinterfragt. Außer, dass Freunde angerufen haben, wenn sie ein Datum wissen wollten, das ihnen entfallen war. Ich habe öfter versucht ihnen mitzuteilen, dass etwas mit mir anders war. Dass ich litt. Dann sagte ich: Ich kann absolut nichts vergessen, versteht ihr? Und die anderen nickten nur und sagten: Ja, ja, das wissen wir doch.
SZ: Was können wir von Ihnen lernen?
Price: Das sollen am Ende die Ärzte beurteilen. Sie haben mein Hirn gescannt und festgestellt, dass wesentliche Teile größer sind als bei anderen. Was auch immer das bedeutet: Ich hoffe, dass sie diese Erkenntnis nun irgendwie weiter bringt. Ich persönlich finde: Wir sollten vorsichtig sein im Umgang mit anderen. Weil ich ein Leben lang erfahren habe, wie es ist, nicht ganz verstanden zu werden.
SZ: Kritiker zweifeln auch an Ihren Fähigkeiten. Ein Neurologe sagte, wenn wir alle manisch jedes Detail unseres Lebens notieren würden, die Fakten auswendig lernten und das oft trainierten, würden wir uns auch an sehr viel mehr erinnern.
Price: Das erklärt aber nicht, warum ich mich auch an die Dinge erinnere, die ich nicht aufschreibe. Ich habe mich gewundert, dass er da so drastisch war, ohne je CT-Aufnahmen von meinem Gehirn gesehen zu haben. Und auch die Forscher, die sich mit meinem Fall beschäftigen, betonen schließlich, dass sich daraus keine allgemeingültigen Antworten ableiten lassen. Tatsache ist aber schon jetzt, dass es hier nicht nur um irgendeine Frau geht, die ein bisschen zu sehr von ihrem Leben besessen ist. Eine Zwangsstörung wäre als Erklärung einfach zu oberflächlich.
SZ: Sie empfinden Ihr Erinnerungsvermögen als Last und Geschenk zugleich?
Price: Es ist beides. Ohne meine Fähigkeit, alles abzuspeichern, hätte ich viele schöne Erinnerungen nicht. Andererseits erinnere ich mich so gut an vieles, das ich mir selbst nicht verzeihen kann. Leider!
SZ: Zum Beispiel?
Price: Es sind die vielen Kleinigkeiten, die einen verrückt machen. Hast du dich in dieser Situation richtig verhalten, in jener Unterhaltung das Richtige gesagt? An größere vermeintliche Fehlentscheidungen erinnern sich andere ja auch.
SZ: Es heißt, Sie litten an Depressionen deswegen.
Price: Ja, in den frühen neunziger Jahren war ich in Therapie. Das hilft mir bis heute. Etwa, als mein Mann vor fünf Jahren starb. Er ist einfach auf dem Weg zur Arbeit umgekippt. Wir hatten so viele Pläne. Ich lag eine Woche nach der Beerdigung noch immer im Bett und war wie gelähmt vor Schmerz. Dann dachte ich: Du bist jetzt 39 Jahre alt und du hast einfach nicht mehr so viel Zeit wie früher. Er hätte Entscheidungen getroffen, und nun musst du eben welche treffen!
SZ: Es ist eine psychologische Binsenweisheit, dass wir vergessen müssen, um seelisch gesund zu bleiben. Welche Bedeutung haben Sprichwörter wie "Die Zeit heilt alle Wunden" für Sie?
Price: Keine. Ich habe Dinge noch nicht verarbeitet, die 30 Jahre her sind. Das wird immer extrem schwer für mich sein. Dieses Sprichwort empfinde ich daher ähnlich wie die Redensarten "Schwamm drüber" oder "Das Leben geht weiter": Ich weiß, was sie bedeuten sollen, aber verstehen kann ich sie nicht mal im Ansatz.