Dem Geheimnis auf der Spur:Der geniale Patient

Dem Geheimnis auf der Spur: Eindrucksvolle Leidensgeschichte: der Jurist Daniel Paul Schreber (1842 - 1911).

Eindrucksvolle Leidensgeschichte: der Jurist Daniel Paul Schreber (1842 - 1911).

(Foto: Alamy / Dipper Historic/mauritius images / Alamy / Dippe)

Daniel Paul Schreber und seine ungeheuerliche Krankengeschichte, die schon Sigmund Freud faszinierte.

Von Willi Winkler

Er ist wohl der berühmteste, auf jeden Fall der am gründlichsten behandelte Patient der Welt: Analytiker wie Sigmund Freud und C. G. Jung haben sich, wenn auch aus großer Entfernung, über ihn gebeugt, die Schriftsteller Elias Canetti, Arnold Zweig und Walter Benjamin haben seine Geschichte zu deuten versucht, in Hunderten von Aufsätzen und Büchern wird sein Fall bis heute besprochen, Anthony Burgess hat sogar das Drehbuch für einen Film mit Burt Lancaster geschrieben, nur das Musical fehlt - der Kranke beim Sonnentanz, die "flüchtig hingemachten Männer" vielleicht als Gefangenenchor, der betreuende Arzt Paul Flechsig als mephistophelischer Bösewicht.

Daniel Paul Schreber war in den besten Jahren, gesegnet mit einer jungen Frau und als Jurist so angesehen, dass er einen Ausflug in die Politik wagen konnte, bei der Reichstagswahl 1884 als Kandidat in Chemnitz aber kläglich scheiterte und danach so heftig erkrankte, dass er sich selber in die Klinik einwies. Nach einem halben Jahr wurde er als geheilt entlassen. Er setzte die Laufbahn fort und brachte es bis zum Senatspräsidenten. Dann meldete sich der Wahn zurück mit aller Macht.

Ein neunjähriges Martyrium mit Kaltwasserkuren und Dunkelkammer folgte, mit sadistischen Pflegern und einer Kastrationsdrohung. Schreber zeigte alle Anzeichen einer paranoiden Störung. Er fühlte sich nicht nur von Stimmen umgeben und beobachtet, sondern mit allen Gedanken und Besitztümern "aufgeschrieben": "Wer das Aufschreiben besorgt, vermag ich ebenfalls nicht mit Sicherheit zu sagen. Da ich mir Gottes Allmacht nicht als aller Intelligenz entbehrend vorstellen kann, so vermute ich, dass das Aufschreiben von Wesen besorgt wird, denen auf entfernten Weltkörpern sitzend nach Art der flüchtig hingemachten Männer menschliche Gestalt gegeben ist."

Kaum hat ein Patient seine Leiden so furchterregend beschrieben

Der Gott, der anderswo Eisen wachsen ließ, sprach ihn praktischerweise in gutem Deutsch an, und er gestand sich ein, "dass es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege". Die Ärzte notierten verwundert, dass ihr Patient nach Brüllorgien, nach Ess- und Schlafstörungen wieder völlig vernünftig war. Allerdings fühlte er sich zunehmend von den "hingemachten Männern" bedrängt und sprach schließlich von "Seelenmord".

Kaum je hat ein Patient seine psychischen Leiden so detailliert, gleichzeitig so farbig und furchterregend schildern können wie Schreber. Offensichtlich war er dabei von der Folklore seiner Tage beeinflusst, von Nietzsches Übermenschentum also und von Wagners Gesamtkunstwerkfantasien; auch der zeitgenössische Antisemitismus fehlte nicht. Seine Paranoia wurde unter anderem von Elias Canetti als Vorzeichen für den Nationalsozialismus genommen. Andere entdeckten die Ursache für den Wahn beim Vater Moritz Schreber, der nicht nur eine vielgelesene "Aerztliche Zimmer-Gymnastik" veröffentlicht hatte, sondern auch mit seltsamen orthopädischen Geräten eine aufrechte Haltung erzwingen wollte. So mag sich das "Engbrüstigkeitswunder" des Sohnes dem Vater verdanken, der im Geist von Turnvater Jahn verordnete: "Es muss System hineinkommen." Wenn er aber "ziemlich sichere Andeutungen darüber erhalten" haben will, "dass der harte Winter des Jahres 1870-1871 eine von Gott beschlossene Sache war, um bei gewissen Anlässen das Kriegsglück auf Seite der Deutschen zu wenden", zeigte sich der jüngere Schreber nicht verrückter als seine großmachttrunkenen Mitbürger.

Der sonst gern ein bisschen depressive Freud schrieb 1910, als er die Aufzeichnungen erstmals in Händen hielt, seinem Schüler C. G. Jung begeistert vom "wunderbaren Schreber, den man zum Professor der Psychiatrie und Anstaltsdirektor hätte machen sollen".

Dem wunderbaren Schreber gelang es, mit dem eigenen Aufschreiben seiner Krankheit soweit Herr zu werden, dass er sich in die Mündigkeit zurück klagen konnte und entlassen wurde. Seine "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" erschienen 1903 in einem okkultistischen Leipziger Verlag, sodass die Welt endlich "Gottseibeieinanderauskunft" erhielt und staunend erfuhr, dass "die Kenntnis des Eisenbahnwesens von Gott selbst erworben" ist. Die Familie kaufte den größten Teil der Auflage vom Markt, aber das Buch fand dennoch seine Leser und findet sie bis heute.

Der Jurist, der sich so gern in ein "Weib" verwandelt hätte, blieb bis zum Tod ein Mann und seiner Ehefrau treu. Seine wahre Sehnsucht verriet er am Ende der Aufzeichnungen. Eine ganz besondere "Palme des Sieges" erwarte er sich, nämlich "dass an meinen Namen eine Berühmtheit sich anknüpfte, die Tausenden von Menschen von ungleich größerer geistiger Begabung nicht zu Teil geworden ist". Und so kam's auch. Der Ruhm des nervenkranken Schreber hält an.

Noch besser gehalten hat sich der Schrebergarten, der aber nur sehr indirekt auf den Vater des wunderlichen Patienten zurückgeht. Den Zeitgenossen galt Moritz Schreber als Menschenfreund, weil er sich fürs Turnen und die Bewegung an frischer Luft eingesetzt hatte. Nach seinem Tod wurde ihm ein Park gewidmet, und es entstanden Schrebervereine, die sich auf seine Leitideen beriefen, von denen in den vorstädtischen Parzellen allerdings nichts mehr zu spüren war, wo nun die Blumen in Reih und Glied zu stehen hatten. Zu den Anhängern seiner Leibesertüchtigung zählt auch Effi Briest, die die vorgeschriebenen Bewegungen aus der "Zimmer-Gymnastik" vollführt, sehr zum Entzücken ihrer Mutter. 1896, als Theodor Fontanes Roman erschien und Schreber junior in der Anstalt mit "Seelenwollust" Strahlen empfing, hatte die Fibel bereits die 25. Auflage erreicht. Merkwürdigerweise ist es in einem ganzen Jahr Corona keinem Verleger eingefallen, die "Zimmer-Gymnastik" neu herauszubringen.

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