Damals und heute:Wie das Trauma eine Familie prägt

Unser Autor berichtete 2001 über den Prozess in Hamburg. Noch heute beeindruckt ihn das Auftreten Reemtsmas.

Von Reymer Klüver

Es war eine übermenschliche Anstrengung, Prozesstag für Prozesstag. Jan Philipp Reemtsma hatte sich offenkundig vorgenommen, als Wissenschaftler, der er war (und bis heute ist), an die Sache zu gehen. Distanziert. Auf Abstand bedacht. Ergründen wollte er, was geschieht, wenn ein Mensch dem anderen Gewalt antut, warum ein Mensch so etwas macht. Nur: Anlass dieser Studien war seine eigene Entführung. Und Gegenstand war er selbst, zum einen. Sich, sein Verhalten, hatte er indes schon analysiert; drei Jahre zuvor war sein Buch "Im Keller" erschienen, in dem er Rechenschaft abgelegt hatte über seine Gefühle und Gedanken in der Hand von Entführern.

Nun aber konnte er den Kopf der Gangsterbande selbst studieren, von Angesicht zu Angesicht. Fünf Meter vielleicht saß Thomas Drach von ihm im Gerichtssaal entfernt. Der Mann, der Reemtsma 1996 brutal überfallen und 33 Tage lang in einem Kellerverlies angekettet festgehalten hatte. Nach der Zahlung von umgerechnet rund 15 Millionen Euro ließ die Bande den Multimillionär und Mäzen frei. Drach selbst gelang zunächst die Flucht, er wurde zwei Jahre später in Argentinien gefasst und nach Deutschland ausgeliefert. Im Dezember 2000 begann der Prozess.

Reemtsma kam zu jeder (oder fast jeder) Verhandlung ins Hamburger Landgericht und nahm Platz an dem Resopaltisch, welcher der Nebenklage vorbehalten war. Zu beobachten war der Versuch eines Geistesmenschen, die Dämonen der Angst in seinem Inneren, der Ohnmacht, vielleicht auch der Scham ob der Erniedrigung, Opfer gewesen zu sein, mit der Macht des Intellekts in Schach zu halten. So würdevoll und doch schmerzhaft wirkte das, wie der Auftritt seines Peinigers kläglich und voll Selbstmitleid war.

Drach wurde zu 14 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Er ist inzwischen wieder auf freiem Fuß. Jan Philipp Reemtsma setzte seine Arbeit als Wissenschaftler und Mäzen fort. Wie sehr das Trauma aber ihn und seine Familie prägte, zeigt vielleicht der Umstand, dass auch sein Sohn Johann Scheerer ein Buch über die Entführung geschrieben hat. Es kam 2018 heraus - mehr als zwei Jahrzehnte nach der Tat.

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