Zeit haben! Das wünscht sich jeder. Um all die Bücher, die sich seit Monaten stapeln, zu lesen. Damit man endlich all den Kram erledigen kann, den man vor sich herschiebt mit dem Argument, anderes sei wichtiger: Abrechnungen machen, all das ausmisten, was sich so im Laufe der Jahre angesammelt hat in den Kästen und Ecken und Schubladen der Wohnung.
Das Zeitgefühl verändert sich, Wichtiges schrumpft zu Bedeutungslosem, wenn klar wird: Häusliche Quarantäne, das trifft auch mich. Es vergingen fast 24 Stunden bis zu einer E-Mail des für Korrespondenten zuständigen Government Press Office, in dem steht: So wie die Israelis müssen auch alle permanent hier lebenden Ausländer rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Einreise zwei Wochen zu Hause in Isolation, während ausländische Touristen weiter herumspazieren dürfen - vorerst. Das bedeutete: eine Woche Quarantäne.
Das ist eine Diagnose, auch ohne Krankheit. Es ist ein Urteil, das es hinzunehmen gilt, auch wenn sich der Kopf dagegen sträubt: Zu Hause bleibt man doch nur, wenn man krank ist. Wann war ich eigentlich das letzte Mal eine Woche ununterbrochen in den eigenen vier Wänden? Ah, die Grippe vor zwei Jahren. Aber warum zu Hause bleiben, wenn man sich völlig gesund fühlt? Das ist schwierig für jemanden, der gewohnt ist, Dinge anzustoßen und auch schnell abzuarbeiten. Plötzlich zum Stillstand verdammt zu sein. Ja, verdammt!
Die Unklarheit, ob nun hier lebende Ausländer zu den Israelis oder zu den Touristen gezählt werden, verschaffte immerhin Zeit, noch Einkaufen zu gehen. Bestandsaufnahme im Kühlschrank: eine Flasche Wein, eine Flasche Sekt und eine angebrochene Flasche Aperol. Das reicht für zwei Mal Rausch, aber nicht für eine Woche allein daheim, oder? In den Schubladen sieht es nicht viel besser aus: Knäckebrot, Müsliriegel und Suppen, immerhin.
Aufforderung an Ausländer, nicht ins Land zu kommen
Was braucht eine Person unbedingt an Lebensmitteln für eine Woche? Milch, Brot, Mineralwasser. Dann noch Obst, Käse und Joghurt, das müsste reichen. Zwei Mal zum Supermarkt, dann ist alles vorhanden von dem, von dem man annimmt, dass man damit sieben Tage über die Runden kommen müsste. Im Aufzug hängen Zettel, in denen alle, die in den vergangenen zwei Wochen im Ausland waren, aufgefordert werden, sich an die Vorschriften zu halten. Und der Satz: "Ausländer werden aufgefordert, nicht ins Land zu kommen." Nachbarn sollten außerdem melden, wenn sie den Verdacht hätten, es gäbe einen Fall.
Dann noch ein Gang zum Supermarkt für eine Kollegin, die von der Schule des Sohnes die Aufforderung bekommen hatte, dass die ganze Familie ab sofort in Quarantäne muss. Deren Kühlschrank ist immer besser gefüllt als meiner, zum Glück in Zeiten wie diesen. Auch meine Mutter in der Heimat ist rehabilitiert: Seit Jahren besteht sie darauf, dass die Speisekammer gut bestückt ist, denn es könnte ja wieder einmal ein Winter kommen, in dem man eingeschneit wird, oder es könnte sich sonst eine Katastrophe á la Tschernobyl ereignen. Jahrelang haben wir uns darüber lustig gemacht, dass sie Nudeln und andere haltbare Lebensmittel hortet. Jetzt nicht mehr.
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Wenn man dann zurück im eigenen Zuhause auf sich selbst zurückgeworfen ist, stellt sich die Zeit plötzlich als etwas Großes, Leeres dar. Was tun? Es trudeln am Anfang noch vereinzelt Mails ein: Die Absagen des Konzerts der israelischen Philharmoniker mit dem Schlagzeuger Martin Grubinger, Informationen über stornierte Flüge. Das ist rasch abgearbeitet, dann werden auch die Emails weniger.
Die Entdeckung der TV-Programme
Plötzlich die Entdeckung, dass es nicht nur den Nachrichtensender gibt, den man immer einschaltet, sondern sich mit der Fernbedienung durch mehr als hundert Kanäle zappen kann. Darunter sind neben Deutsche Welle und 3sat auch zwei deutsche Privatsender, die während des Tages fast nur Anwälte, Ärzte und Polizisten in nachgespielten Szenen zeigen - auch eine Erkenntnis. Welch eine Freude, dann im englischen Original die Hollywood-Produktion "Lost in Translation" zu sehen: verloren zwischen den Zeiten, so fühle ich mich auch.
Struktur bringt ein regelmäßiger Tagesablauf: Aufstehen, duschen, anziehen, Kaffee machen und den Computer einschalten. Wie immer. Home-Office ist nichts Neues für mich. Was aber jetzt schwerer fällt, da man nicht außer Haus muss oder vielmehr darf, das eiserne Prinzip einhalten: nie im Pyjama vor den Laptop! Denn wenn Zeit keine Rolle mehr spielt, ist die Gefahr groß, sich gehen zu lassen. Der Weg zum Sofa ist nur ein paar Schritte - acht, um genau zu sein.
Auch in der Quarantäne gilt die eiserne Regel des Home-Office: nie im Pyjama vor den Laptop!
(Foto: privat)Die Schritte in der Wohnung zählen
Und mit der Zeit zählt man dann auch wirklich seine Schritte: Siebzehn sind es ins Bad, elf bis auf den Balkon. Rauszugehen, Luft zu schnappen - das ist die kleine Freiheit, die so unglaublich wichtig wird. Regelmäßig aufstehen, sich Runden in der Wohnung suchen, um sich zu bewegen, das muss man sich immer häufiger vornehmen, je mehr Zeit vergeht. Es gibt einen Drang sich einzurichten in diesem zeitlosen Zustand, der wohl auch Entschleunigung heißt.
"Das Nichts nichtet", hat schon der Philosoph Martin Heidegger erkannt. Für ihn gehört das Verschließen und sich der Welt Verweigern zu den Grunderfahrungen, die zum Menschsein gehören. Aber wenn "Sein und Zeit" aus dem gewohnten strengen Korsett fallen und das Dasein auf einmal nicht mehr in die Zukunft gerichtet ist, sondern schlicht heißt, wie bringe ich diesen Tag über die Runden, dann ist man plötzlich sehr auf sich selbst zurückgeworfen. Eine Art verordnete Egozentrik: Ich bin selbstbestimmte Herrscherin über meine Zeit.