Süddeutsche Zeitung

Gesellschaft:Zeit, danke zu sagen

Jahrzehntelang war der Begriff der Heldin oder des Helden verpönt, doch jetzt wird er ständig benutzt. Dabei wäre es wichtiger, öfter mal zu danken. Denn unser System wird in Zukunft noch weitaus mehr Betreuer brauchen.

Ein Essay von Kurt Kister

Wenn in der ziemlich unpathetischen deutschen Gesellschaft "Helden" oder "Heldinnen" ausgerufen werden, muss man sehr genau hinsehen. Der Begriff nämlich hat eine Jahrhunderte alte Tradition im Militärischen; er wurde bis vor 75 Jahren hierzulande auch nur selten in anderen Zusammenhängen benutzt - und wenn, dann meist nur abschätzig-ironisch ("Du bist mir ja ein schöner Held"). Helden jedenfalls vollbrachten außergewöhnliche Taten der Tapferkeit. Warum und vor allem wofür sie dies taten, spielte oft keine so große Rolle. Die Heldentat, das Außergewöhnliche, war ein Wert an sich, und als solcher diente sie eben auch der Propaganda in deutschen Feudalstaaten und Diktaturen. Helden wurden noch gefeiert, als es eigentlich längst nichts mehr zu feiern gab.

Plötzlich hat das Land wieder "Helden" und "Heldinnen"

In der Bundesrepublik war das Wort auch deswegen lange nahezu verpönt. Zu viele hatten noch zu deutlich in Erinnerung, wie das NS-Regime Heldenmythen schuf und ausnutzte. Dass im damals anderen Deutschland, in der DDR, der Begriff in der an den sowjetischen Wortschatz angelehnten offiziösen Sprache noch oder wieder eine Rolle spielte ("Held der Arbeit"), wurde oft mit ironischer Bitterkeit kommentiert (im Osten) oder lächerlich gemacht (im Westen).

Und nun, in der Corona-Krise, hat das Land plötzlich wieder Heldinnen und Helden? Die Pflegerinnen und Ärzte, die Krankenschwestern und Rote-Kreuz-Leute, die in Kliniken, auf Intensivstationen, in Heimen und Wohngruppen arbeiten, werden gerne als Helden bezeichnet. Nein, sie sind keine Helden, nicht nur wegen der problematischen Vergangenheit dieses Begriffs. Sie sind es auch deswegen nicht, weil sich manche der anderen, der Schreibtischleute im Home-Office, der Politiker und Beamten, der Schlagzeilendenker nicht nur in den Medien, mit der Vergabe solcher Etiketten in gewisser Weise auch davonstehlen: Wir machen das, was wir machen, und die Helden und Heldinnen machen das, was nötig ist.

Die Frauen und Männer in den Krankenhäusern, Heimen und Pflegestationen tun letztlich nichts anderes als das, was sie vorher getan haben. Der emeritierte Würzburger Professor Ernst Engelke, der sich sehr für die Hospizbewegung engagiert hat, schreibt in einem Essay über die Helfer: "Ihre Arbeit war auch vorher hart. Oft seelisch an der Grenze des Ertragbaren. Auch vor der Corona-Pandemie sind Menschen in Heimen und Kliniken gestorben. Manchmal viele in kurzer Zeit."

Die Gesellschaft funktioniert, weil es die Helfenden gibt

Es scheint so, als werde der Heldenstatus jetzt vergeben, weil sehr viele Menschen allmählich erkennen, was andere Menschen schon immer für die Gesellschaft, also für "uns" getan haben. Wenn jemand in der Corona-Krise die Intensivpflegerin als Heldin bezeichnet, kann das damit zusammenhängen, dass er ihre Arbeit vorher kaum wahrgenommen hat. "Vorher" heißt: vor der Zeit, in der alle betroffen waren.

Es gibt für diese Art der selektiven Wahrnehmung übrigens einen interessanten Beleg. Manchmal las man in der Zeit vor der Seuche in Todesanzeigen, dass sich die Familie bei Ärztinnen oder Pflegern für ihren Dienst am Gestorbenen bedankte. Wer durch die Krankheit eines Angehörigen selbst mit dem Alltag von Behandlung, Pflege und, auch das, Tod konfrontiert wurde, der bemerkte eher, dass es etliche Berufsgruppen gibt, für die diese Ausnahmesituation der Alltag war und ist. Eben weil die Ausnahmesituation Corona nun zum Alltag aller geworden ist, stehen die Helfer plötzlich im Rampenlicht.

Das ist gut, durchaus. Denn je mehr darüber geredet, gesendet und gepostet wird, desto deutlicher wird für viele, dass die Gesellschaft funktioniert, weil es die Helfenden und die Dienenden gibt. "Dienend" ist hier nicht hierarchisch gemeint, sondern es beschreibt ein weites Feld der Arbeit. Der Schulbusfahrer dient anderen Menschen ebenso, wie es die Polizistin oder der Feuerwehrmann tun. Auch die Leute, die den Müll abholen, gehören zu den "Dienenden" genauso wie die Millionen Ehrenamtlichen, die zumeist für ihren Dienst nicht einmal bezahlt werden.

Eigentlich ist auch das Wort "dienen" so wie der Begriff "Held" etwas altertümlich. Und natürlich wurde in den heroischen, bösen Zeiten auch "Dienst" zum propagandistischen Vehikel, mit dem man den Einsatz sehr vieler für den Nutzen sehr weniger zu rechtfertigen und zu überhöhen versuchte. Und dennoch hat der Begriff vom Dienst an anderen diese Zeiten im Vergleich zum Etikett Held nahezu unbeschädigt überstanden. In der modernen Gesellschaft, die eben nicht zum Pathos neigt, haben die Betriebswirte und die Juristen, also die Priesterkasten des effizienzorientierten Postindustrialismus, aus dem Dienst die "Dienstleistung" gemacht.

Nur am Rande: Das Wort Dienstleistung ist seltsam. Dienst, also das eigentlich nicht ökonomisch orientierte Handeln zum Wohle anderer, wird mit dem urkapitalistischen Wort Leistung verknüpft. Leistung bedeutet: messbar, kein sentimentaler Firlefanz, du machst, ich zahle und zwar nicht zu viel.

Es ist eine Binsenweisheit, dass die sogenannten dienenden Berufe nicht zu den gut bezahlten gehören. Vielleicht ändert sich das schrittweise - zum einen wegen der aktuellen Krise, zum anderen aber auch wegen der, wie heißt das so schön, soziodemografischen Entwicklung. Die aktuelle Krise hat binnen kurzer Zeit allen deutlich gemacht, dass die Pflegehelferin und der Sanitäter "wichtiger" sind als die Modebloggerin oder der IT-Unternehmensberater, beides bis vor Kurzem scheinbar noch Stützen, zumindest aber Symbole der digitalen Leistungsgesellschaft.

Zum anderen aber benötigt die Gesellschaft offenbar immer mehr Menschen in Dienstberufen. Das ist nicht nur so, weil sich die Altersstruktur hin zu den immer Älteren verschiebt, die immer mehr werden. In vier Jahren werden die Angehörigen des Jahrgangs 1964, der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland, 60 Jahre alt. Viele von ihnen fühlen sich heute noch irgendwie jünger. Das gibt sich.

Aber nicht nur die vielen Älteren brauchen mehr Helferinnen und Helfer. Das Lebensmodell vieler Jüngerer beruht darauf, dass es Kindertagesstätten und Kindergärten, Ganztagsschulen und andere Betreuungs- und Bildungseinrichtungen gibt. Dass dies in den Wochen der vielfältigen Schließungen gerade nicht funktioniert, scheint gegenwärtig das Hauptproblem der jüngeren Mittelalten zu sein.

In Zukunft werden noch mehr Betreuer gebraucht als heute

Dies alles deutet darauf hin, dass man die Zwanziger-, spätestens die Dreißigerjahre dieses Jahrhunderts mutmaßlich als die Ära der betreuten Gesellschaft wird beschreiben können. Dabei wird auch eine Rolle spielen, dass sich das Konsumverhalten in Deutschland wohl verändern wird in Richtung weniger Besitz, mehr Nachhaltigkeit. Die allmähliche Entwertung bisheriger Statussymbole wie etwa Autos wird voranschreiten.

Allerdings wird wohl auch die weitere Verstädterung anhalten und damit auch die Verschärfung der Gegensätze zwischen urbanen Menschen und den anderen. In jedem Fall werden für die betreute Gesellschaft noch mehr Betreuer gebraucht als heute. Sie werden vielleicht nicht die Gesellschaft dominieren, aber wenn es nicht genug von ihnen gibt, wird das System der Zukunft nicht mehr funktionieren. Und die Wahrscheinlichkeit, dass Betreuungs- und Medizindrohnen die physischen und psychischen Bedürfnisse im Jahr 2032 erfüllen können, ist gering.

Die Krise jedenfalls zeigt, wie sehr der Mensch vom Menschen abhängig ist. Man muss deswegen niemanden zum Helden stilisieren. Aber Respekt und Anerkennung verdienen die vielen, die sonst ihren Dienst eher im Schatten der Aufmerksamkeit verrichten, sehr dringend. Unter ihnen sind übrigens viele, die in der Gesellschaft, wenn alles "normal" läuft, noch weniger Anerkennung finden. In den, eigentlich auch ein schreckliches Wort, "systemrelevanten" Berufen arbeiten viele Migranten, viele Menschen aus Osteuropa und viele, die nach deutschen Recht nicht ganz legal das tun, was sie tun. Wenn irgendein Trottel wieder mal von der "Umvolkung" schwafelt, sollte man ihn fragen, was er denn zum Pfleger aus Syrien oder zur Betreuerin aus Bulgarien sagt.

Diese Krise verlangt allen viel ab. Vielleicht am meisten verlangt sie denen ab, die nicht im Home-Office arbeiten können, sondern die im Schutzanzug auf der Intensivstation tätig sind. Es ist Zeit, danke zu sagen. Jetzt schon. Nicht erst, wenn man eine Todesanzeige schalten muss.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4890964
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 30.04.2020/jebu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.