Corona-Bewältigung:Pfingstfreiheit auf Widerruf

Coronavirus · Hamburg

Hamburg an Pfingsten: Zwei Polizisten gehen an der Außenalster Streife, auf den Bänken sonnen sich Passanten.

(Foto: dpa)

Nach Corona wird nicht das Paradies beginnen. Doch eine Einsicht sollte nach der Prüfung bleiben: Die Menschen zeigen mehr Gemeinsinn und Bereitschaft zum Verzicht als gedacht.

Von Matthias Drobinski

Schon als die Pest in Europa wütete, war es eine trügerische Hoffnung, dass die Seuche die Menschen bessern und zu mehr Gebet und weniger Sünde führen würde. Manche Wallfahrt, viele Pestkreuze und die Oberammergauer Passionsspiele erinnern noch an die Not der mit der tödlichen Krankheit geschlagenen Menschen, die versprachen, ihr Leben von Grund auf zu ändern, wenn sie nur verschont blieben. Dann aber war die Gefahr vorbei, und irgendwann kehrten die Leute zurück zum alten Trott, liebten und hurten, handelten und betrogen, schlossen Frieden und erschlugen den Feind. Nur manchmal noch hielten sie inne und sagten sich leise: Denk daran, der Tod ist nah.

Es spricht viel dafür, dass dies auch in der Corona-Pandemie ähnlich sein wird. Europa scheint vorerst den schlimmsten Szenarien entkommen zu sein. Man war für zweieinhalb Monate dem Reich des Todes näher als sonst. Nun aber öffnen sich vorsichtig die Türen, füllen sich Plätze und Geschäfte, selbst der Sommerurlaub rückt nah; eine merkwürdige Halbnormalität stellt sich ein - Pfingstfreiheit auf Widerruf hinter der Maske. Und der Chor der Stimmen wird leiser, der noch zu Ostern erklärte, dass nun alles ganz anders werden müsse und die Zeit der großen Umkehr gekommen sei.

Das liegt nahe: Wenn etwas Unfassbares das sicher erscheinende Leben über den Haufen wirft, wächst der Wunsch, den tieferen Grund dessen zu erkennen, was da passiert. Wer entsprechend gestrickt ist, sieht dann finstere Mächte am Werk und hat bald einen, der schuld an der Misere ist. Andere suchen den Sinn der Seuche und hoffen auf mehr Vegetarismus und weniger Konsum, auf ein entschleunigtes Leben und mehr Mitmenschlichkeit. Das ist gut und ehrenhaft, auch wenn man mancher Vision anmerkt, dass sie im ruhigen Home-Office ohne Arbeitsplatzangst und plärrende Kinder entworfen wurde. Vor allem aber ist die Kraft solcher Vorstellungen begrenzt: Die meisten Menschen wollen vor allem ihr einigermaßen normales Leben zurück.

Die einfache Rückkehr zum Alltag aber wird es so bald nicht geben. Es wird der alte Glaube, dass das Leben in den reichen Industrieländern sicher, planbar, vorhersehbar ist, die Risse behalten, die ihm das Coronavirus zugefügt hat. In einer globalisierten Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, wird auch das reiche und so gut funktionierende Deutschland damit leben müssen, nicht alles unter Kontrolle zu haben; die Vorstellung, dem durch Abschottung und Reduktion aufs Eigene, Nationale entgehen zu können, ist eine naive Illusion. Eine der Mut machenden Erkenntnisse aus der Krisenzeit ist aber auch: Das Land hat, allem Chaos und allen Fehlentscheidungen zum Trotz, einen erstaunlichen Vorrat an Resilienz gezeigt.

In einer Gesellschaft, in der Autonomie und Individualität höchste, geradezu religiös aufgeladene Wertschätzung genießen, war die große Mehrheit der Bevölkerung bereit, über Wochen auf diese Freiheiten zu verzichten, mit großer Opferbereitschaft, aus Verantwortung für die Schwachen und Gefährdeten heraus. Sicher haben die staatlichen Anordnungen samt Bußgeldandrohung zur Durchsetzung der Kontaktbeschränkungen beigetragen - aber was wäre passiert, wenn eine Mehrheit der Deutschen keine Einsicht gezeigt hätte? Gegenüber einer kollektiven Abstandsverweigerung wären Polizei und Behörden machtlos gewesen.

Eine Gesellschaft, die den Konsum und die nächste Flugreise als Quasi-Menschenrechte betrachtet, übte den Verzicht und merkte, wie viel vom angeblich Selbstverständlichen in Wahrheit Luxus ist. Zurückgeworfen auf den Nahbereich wandte sie sich lebensklug dem Nahen und Kleinen zu. Und sie lernte die viel geschmähten Institutionen schätzen, die Behörden, die Politiker, die trotz des Söder-Laschet-Ramelow-Gedöns ihren Job machten.

Die Krise hat aber auch in aller Schärfe die Ungerechtigkeiten im Land hervortreten lassen: Wieder einmal zahlen die Frauen den Preis; immer noch sind Pflegekräfte, Erzieherinnen, Verkäufer zu schlecht bezahlt für das, was sie leisten. Virus und Lockdown trafen besonders hart die Paare und Alleinerziehenden mit vielen Kindern und kleinen Wohnungen, die Flüchtlinge in den Massenunterkünften und die Billiglöhner in den Schlachtbetrieben. Der Graben, der die Verletzlichen von den Unverwundbaren trennt, die sich über weniger Abendtermine freuten, war selten so klar sichtbar.

Ob sich daran etwas ändern wird, ob die Welt nach Corona besser sein wird als zuvor, ist nicht ausgemacht. Selbst die reichen Staaten werden ärmer sein als zuvor, die Verteilungskämpfe werden schärfer werden. Aus dem fürsorgenden kann ein bevormundender Staat werden, der mit dem Argument des permanenten Notstands die Freiheitsrechte aushöhlt. Und die Versuchung wird zunehmen, im individuellen und kollektiv-nationalen Egoismus Heil und Rettung des gefährdeten Eigentums zu suchen.

Man muss in dieser eigentümlichen Zeit zwischen Not und Erlösung gar nicht die große Lebensänderung versprechen für die Zeit nach dem Virus, die ja nicht das coronafreie Paradies ist, sondern jene altbekannte Welt samt Erderhitzung und Flüchtlingselend. Es könnte genügen, einige Erkenntnisse dieser Wochen zu nutzen: Es gibt mehr Gemeinsinn, als man denkt, mehr Fürsorge und Bereitschaft zum Verzicht - wenn hinter der Beschränkung ein Sinn erkannt wird und es dabei einigermaßen gerecht zugeht. Das ist gar nicht so wenig in einer Zeit, in der Wissenschaftler, Politiker und Bürger sich tastend und unsicher voranbewegen müssen; jeder, der da behauptet, eine einfache Lösung zu haben, gehört unter Scharlatanerieverdacht gestellt.

Eine vorsichtige Vision ist das zum Pfingstfest, eine Hoffnung aufs Gute, ein Vertrauen auf den schwankenden Boden. Nicht mehr, nicht weniger. Doch ein Volk ohne Vision geht zugrunde - das wusste schon der Prediger im Alten Testament.

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