Lebensart in der Pandemie:Die neue Etikette

Couple wearing masks while greeting each other with elbows in underground walkway model released Symbolfoto EGAF00195

Eine Umarmung zur Begrüßung oder gar ein Küsschen? Um Gottes willen! Der seltsame Ellenbogen-Check ist das Ritual der Stunde.

(Foto: imago stock/imago images/Westend61)

Viele Verhaltensweisen, die vor Corona noch unhöflich oder einfach nur seltsam gewesen wären, sind inzwischen gesellschaftlich voll akzeptiert. Zehn Beispiele für ein neues Miteinander.

Von SZ-Autoren

Das Smartphone-Dinner

Wenn Paare beim gemeinsamen Abendessen minutenlang konzentriert in ihre Smartphones starren, dann liegt die Prognose nahe: Das wird nicht mehr lange gutgehen. Vor allem wenn dieses Starren in einem schönen Restaurant stattfindet - eigentlich müssten die Gäste jetzt in die Speisekarte vertieft sein und Gerichte vergleichen, voller Vorfreude auf das kulinarische Erlebnis. Was ist nur aus diesem Ritual geworden? Speisekarten gibt es in Corona-Zeiten schon noch, einige stecken aber in abwaschbaren Plastikfolien, nicht sehr romantisch. Und immer mehr Lokale setzen inzwischen ganz auf digitale Planwirtschaft: Einfach den QR-Code scannen, dann kriegt man die Tageskarte virenfrei aufs Handy gespielt. So wie im "Grill Royal" in Berlin, wo ohnehin immer etwas mehr auf Effekte geachtet wird als anderswo - Hauptsache, das Wagyu-Bürgermeisterstück hat den richtigen Marmorierungsgrad. Schon praktisch, die neue Karten-Etikette, aber auch ziemlich fad. Wir freuen uns jetzt schon, bald wieder mit den Speisekarten rascheln zu dürfen. Christian Mayer

Endlich Mittelplatz

Die Rolltreppe hält ganze Großstädte am Laufen. Zum Beispiel, weil sie unablässig Menschen in den Untergrund pumpt, um sie ein paar Kilometer weiter an der Oberfläche wieder auszuspucken. So wird sie zwangsläufig zum Nadelöhr. Wer einmal versucht hat, am Samstag auf einer Karstadt-Treppe eine Whatsapp zu beantworten oder seinen zu sperrigen Einkauf in die Tiefen des Münchner Karlsplatzes fahren zu lassen, der weiß, wie tödlich sich die Blicke der Eiligen anfühlen. "Rechts stehen, links gehen!", lautet das erste Effizienz-Gebot des deutschen Rolltreppen-Dekalogs. Am besten so dicht an dicht, dass man den heißen Atem des Hintermanns stets im Nacken spürt. Ein Gesetz, das sich ins Gegenteil verkehrt hat, seit wir Kaufhäuser wie ÖPNV als Herde der Ansteckung sehen. Nun stehen viele Menschen möglichst mittig auf der Treppe (gerne mit Zwischenraumstufe), damit ja keiner auf die Idee kommt, zu überholen und dabei die Abstandsregeln zu verletzen. Mancher quetscht sich dennoch vorbei. Wenn die Blicke über den Masken töten könnten, dann wäre nun der Eilige das Opfer. Marten Rolff

Die Muskel-Maske

Oberarme gehörten zu den wenigen Körperteilen, die noch nicht ständig im Fokus der Accessoires-Mode standen. Mit anderen Worten - die waren bisher angenehm frei von Bedeutung, sieht man von den paar Oberarmen mit Spielführerbinde oder Trauerflor ab. Mit den obligatorischen Masken ändert sich das aber gerade. Die sind bei einem Stadtbummel ja einerseits stets griffbereit zu halten und passen andererseits mit ihrem Gummizug ganz gut an den Bizeps - sodass vor allem Männer sie jetzt gerne dorthin auslagern. Okay, man hat dadurch die Hände frei und verliert den Gesichtsdeckel auch nicht so schnell. Aber das Gesamtbild leidet doch etwas, denn auf den ersten Blick sieht es aus, als ob da jemand vergessen hätte, einen Schwimmflügel auszuziehen. Und irgendwie hat die Oberarmbinde an Zivilisten ja auch immer so einen leichten Blockwart-Beigeschmack. Aber egal, besser als die Maske zwischen dem zweiten und dritten Kinn zu verstecken, ist es allemal. Max Scharnigg

Zum Gruße

Gib dem Onkel mal die Hand! Diesen Satz werden sich Kinder wohl nie mehr anhören müssen. Das ist nicht weiter schlimm, wenn man überlegt, wie oft Händeschütteln verzichtbar war (weil zu luschig oder zu wichtigtuerisch oder schlichtweg zu eklig). Um die Lücke zu schließen, streckt man sich jetzt gern den Ellenbogen entgegen. Das wirkt auch im August noch hilflos, wenn Erwachsene mit verdrehtem Arm in der Luft herumstochern, weil es nicht jedem gleich gut gelingt, den spitzesten Punkt zu treffen. Die Alternative "Füße aneinanderklatschen" ist allerdings noch trister, weil man sich dabei fühlt wie in der ersten Stunde eines Hip-Hop-Kurses an der Tanzschule. Ein freundliches Lächeln, auch hinter der Maske, reicht da völlig aus. Die neue Distanz hat allerdings noch ein zweites Begrüßungsopfer gefordert: das Bussi-Bussi. Das ewige Geschmatze, das selten etwas mit aufrichtiger Freude ob des Wiedersehens zu tun hatte, muss bis auf Weiteres ausfallen. Auch nicht schlimm. Einzig die Nichtumarmung eines guten Freundes hinterlässt weiterhin eine große Lücke. Die zu schließen, ist fast unmöglich. Julia Rothhaas

Brüll! Mich! An!

Es gibt Schwätzer und Schweiger. Wenn man zu der eher zurückhaltenden Sorte Mensch gehört, die lieber nicht alles laut in die Welt posaunt, hat man es oft schwerer als ein Großmaul. Man wird vom Kellner übersehen, kommt in Gesprächsrunden nie zu Wort und kriegt niemals eine Gehaltserhöhung. Dazu müsste man den Mund aufreißen. Das ist jetzt noch schwieriger als sonst, denn vor dem Mund ist meistens ein Stofftuch, zumindest in der Öffentlichkeit. Die Maske macht es introvertierten Nuschlern praktisch unmöglich, sich verständlich auszudrücken. Man muss jetzt noch l-a-u-t-e-r und d-e-u-t-l-i-c-h-e-r sprechen, damit überhaupt etwas ankommt beim mindestens 1,50 Meter entfernten Gesprächspartner. Ungefähr so laut und so deutlich, als würde man mit dem schwerhörigen Großvater reden oder mit einem begriffsstutzigen Hund. Das ist für alle Beteiligten anstrengend und entwürdigend, aber Brüllen hilft - auch als Sprechtraining für maskenlose Zeiten. Titus Arnu

Das Plastik-Revival

Dass die Pandemie keine positive Auswirkung auf die Menge des täglich produzierten Plastikmülls haben würde, zeichnete sich bereits im März ab, als die Restaurants schlossen und viele Kunden teils aus Solidarität, vor allem aber aus Hunger, das Butter Chicken in Styroporboxen nach Hause schleppten. Die Menge des Verpackungsabfalls stieg um zehn Prozent. Jetzt, im Sommer, geht die gesellschaftliche Rehabilitation von Plastikgeschirr noch einen Schritt weiter, wenn auf kleinen und mittelgroßen Feiern die Einwegbecher wiederentdeckt werden. Akzeptabel waren die weißen Knautschtassen höchstens noch auf Kindergeburtstagen an der Kegelbahn, jetzt wird daraus Prosecco getrunken, als sei es 1993. Warum? Weil man mit Filzstift seinen Namen draufschreiben kann und niemand aus Versehen aus dem falschen Glas trinkt. Ein Prosit auf den Klimawandel! Katharina Riehl

Shopping mit Brummer

Hässlich, unförmig, riesengroß - wer hätte gedacht, dass diese Attribute einmal die perfekte Tasche ausmachen würden? Statt Jutebeutel oder Minirucksack ist seit Beginn der Corona-Zeit nur noch Brummer beim Einkaufen dabei, ein schwarz-weiß-gestreiftes Ungetüm aus kratzigem Sisal, das der Einkäuferin im Supermarkt von der Schulter baumelt und den Rücken krümmt. Einmal schwungvoll über die Schulter geworfen, offenbart es in schmalen Gängen und Warteschlangen seine Superkraft: Menschen auf Abstand halten, für die es Corona offenbar nicht gibt. Denen man das oft schon an der Nasenspitze ansieht, die aus der Maske ragt. Und mit denen es keinen Sinn hat zu diskutieren. Weil viele selbst auf höfliche Bitten reagieren, als hätte man sie aufgefordert, ihr Kind an der Käsetheke auszusetzen oder einen Beutel Teelichter zu verspeisen. Brummer ersetzt einen Teil dieser Konfrontationen. Modisch und orthopädisch mag die Tasche fragwürdig sein, aber als nonverbaler Schutzschild macht sie den Alltag für alle netter. Nina Himmer

Stille im Aufzug

Den Mitfahrern zu nahe kommen, Sandwich auspacken, den Blick unsicher gen Boden richten oder gar telefonieren - schon vor dem C-Zeitalter konnte man bei der Benutzung eines Aufzugs einiges falsch machen. Inzwischen aber hat sich das korrekte Liftverhalten um eine entscheidende Frage erweitert: "Darf ich zusteigen?" Wer die nicht stellt, outet sich als unsensibler Ignorant. Ebenso wer im Lift keine Maske trägt. Auch das Drücken der Stockwerkstaste mit dem bloßen Finger ist nicht mehr en vogue. In manchen Fahrstühlen hängen jetzt Behälter mit Zahnstochern, Ingenieure tüfteln an Fußdruckknöpfen und Hologrammen. Die beste neue Verhaltensregel aber gilt, wenn sich die Türen schließen. Dann muss kein Wettergeplänkel und kein verkrampftes Gespräch mit dem Chef mehr überstanden werden. Die neue virologische Höflichkeit heißt: schweigen. Ann-Kathrin Eckardt

Im Klingelbeutel

Geld zusammenhalten, das war während der kritischen Wochen der Corona-Krise nicht so schwer. Ausgehen ging nicht, Trostkäufe machten keinen Spaß, und irgendwann hatte der Heimbestand an Einweghandschuhen und Desinfektionsgel ein beruhigendes Ausmaß angenommen, sodass man von weiteren Sicherheitsvorräten absah. Kurz, das Bare blieb länger im Beutel als jemals zuvor. Inzwischen darf man wieder cash bezahlen, ohne dass die Kassiererin zurückzuckt, als würde man ihr einen brennenden Zehner hinhalten. Aber gewisse Berührungsängste sind geblieben: zum Beispiel das geöffnete Münzfach hinzustrecken für das Restgeld, das dann mit zuversichtlichem Klimpern im Portemonnaie ankommt. Irgendwie klingt das netter als früher und ist auch hygienischer als die Übergabe von einer schwitzig warmen Augusthand in die andere. Klar, manchmal fühlt sich die Geste ein bisschen an wie bei der Kollekte mit Klingelbeutel in der Kirche. Aber man kann sie auch als Befreiung sehen: Das Restgeld kontrollieren? Es gibt Wichtigeres an einem Sommertag 2020 am See. Anne Goebel

Fenster auf!

Früher galt man, wenn man überall die Fenster aufriss, schnell als Frischluftfanatiker, und das war nicht unbedingt nett gemeint. Der Frischluftfanatiker lief, so zumindest dem Klischee nach, auch gerne barfuß herum, um Mutter Erde zu spüren, sogar im Winter. Oder er aß Vollkornbrot, das nie grobkörnig genug sein konnte. Er hatte etwas von einem Zivilisationsverweigerer, und fast immer beschwerte sich dann jemand darüber, dass es zieht, dass es zu kalt oder zu warm wird. Oder die Person, deren Fenster aufgerissen wurden, dachte: Mieft's denn bei mir so? Jetzt ist dank des Coronavirus und der Aerosole, in denen es sich eventuell versteckt, eine konstante Frischluftzufuhr in Räumen absolut erwünscht, und wer sich dagegen wehrt, ist ein potenzieller Gesundheitsgefährder. Lüften, lüften, lüften! Der Frischluftfanatiker ist voll rehabilitiert. Jan Kedves

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