Süddeutsche Zeitung

Corona-Impfung:Sitz, Platz und Piks

Tierärztinnen und Tierärzte sind Multitalente mit einem besonderen Händchen für bockige Patienten. Vollkommen richtig also, dass sie jetzt auch Corona-Impfungen für Menschen verabreichen sollen. Eine Würdigung.

Von Titus Arnu

Oskar ist kein Impfskeptiker. Im Gegenteil, der drei Jahre alte Labrador-Rüde freut sich jedes Mal wie ein Schnitzel, wenn er einen Impftermin hat. Schwanzwedelnd stürmt er auf die Praxis unserer Tierärztin zu, springt freiwillig auf den Behandlungstisch. Die Pflichtimpfung gegen Staupe, Tollwut, Hepatitis, Parvovirose und Leptospirose (hoch ansteckende Infektionskrankheiten) nimmt der Hund aus zwei Gründen so freudig hin. Erstens: Er interessiert sich einen Hundedreck für Verschwörungsquatsch in sozialen Medien. Zweitens: Er bekommt dafür ein Leckerli von der Tierärztin.

Aus Sicht von Labradoren ist es wohl keine schlechte Idee, Tierärzte und Tierärztinnen für eine groß angelegte Impfaktion einzusetzen. "Jeder, der medizinisch verantwortbar eine Spritze halten kann, um eine Impfung zu geben, soll das in den nächsten Wochen tun", forderte Christian Lindner (großes Tier bei der FDP). Die rund 10 000 Tierarztpraxen in Deutschland könnten bei 50 Impfungen pro Woche und Praxis monatlich ohne Weiteres zwei Millionen Menschen spritzen, rechnete Siegfried Moder vor, Präsident des Bundesverbands der Tierärzte. In den USA helfen Tiermediziner längst beim Impfen mit, warum also nicht auch hier? Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts, ist selbst Veterinärmediziner.

Von Impfgegnern und Corona-Leugnern wird Wieler oft abfällig "Viehdoktor" genannt, obwohl er Professor für Mikrobiologie und Experte für Zoonosen ist, also für die Übertragung von Infektionserregern von Tieren auf Menschen. Was soll das überhaupt heißen, "nur ein Tierarzt"? Tierärztinnen und -ärzte müssen mit kratzenden, beißenden Wesen umgehen können. Sie meinen es grundsätzlich gut mit ihren Patienten, bekommen aber oft genug Krallen und Zähne zu spüren. Nicht alle Haustiere sind so positiv drauf bei einem Arztbesuch wie ein verfressener Labrador, der für ein fingernagelgroßes Futterfitzelchen beim Impfen auch noch freiwillig Männchen macht.

Kaum jemand könnte in der emotional überhitzten Impfdebatte also hilfreicher sein

Bei vielen Hunden und Katzen ist die Angst vor dieser mysteriösen Person in dem weißen Kittel so groß wie die Angst des Verschwörungsschwaflers vor dem angeblich in der Spritze versteckten Chip. Was unser Oskar jedoch nicht ahnt: Die Tierärztin hat ihm als Welpe tatsächlich per Spritze einen Chip unter die Haut gepflanzt. Der dient nicht dem Zweck, sein Erbgut zu verändern, Bill Gates reicher zu machen oder den Echsenmenschen zur Weltherrschaft zu verhelfen, sondern seinem Schutz. In vielen Bundesländern und für Reisen in der EU ist der Chip Pflicht, er enthält eine Nummer, die im Heimtierausweis steht und helfen kann, den Hund wiederzufinden, falls er verloren gehen sollte.

Gute Tiermediziner haben, ebenso wie hoffentlich die meisten Humanmediziner, nicht irgendwelche finsteren Machenschaften im Hinterkopf, sondern im Idealfall das Wohlergehen ihrer Patienten. Der älteste bekannte Tierheilkundler, der indische Gelehrte Shalihotra, beschrieb schon 2350 vor Christus, wie man Elefanten und Pferde mit Heilkräutern behandelt. Hippokrates und Aristoteles befassten sich mit Krankheiten von Pferden und Rindern. Im 18. Jahrhundert wurde der Tierarzt als akademischer Beruf etabliert, zunächst vorrangig für Nutztiere, die eine militärische und wirtschaftliche Bedeutung hatten. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen Kleintier-Praxen auf, in denen Hunde, Katzen, Kaninchen, Vögel und Meerschweinchen behandelt werden.

Um einen Zwerghasen zu kastrieren oder einem Chihuahua das Beinchen zu schienen, muss man filigran vorgehen. Bei der Behandlung einer zickigen Angorakatze sind psychologisches Einfühlungsvermögen und beherztes Zupacken nötig. Tierärzte müssen Multitalente mit einem Händchen für biestige Quertreiber und skeptische Frauchen und Herrchen sein. Kaum jemand könnte in der emotional überhitzten Impfdebatte also hilfreicher sein. Dennoch ist das Image von Tierärzten derzeit nicht das beste. Parallel zur Kritik an der Humanmedizin sieht sich die Branche zunehmend einer unterschwelligen Grundsatzkritik ausgesetzt. Entwurmungstabletten, Zeckenschutzmittel und Pflichtimpfungen werden von esoterischen Hundefreunden abgelehnt, sie setzen stattdessen auf Globuli, Bernsteinketten und Chakren-Heilung.

Zugegeben, nicht alle Lebewesen sind so versessen auf Spritzen und Tabletten wie unser Labrador Oskar. Unser anderer Hund Bruno hatte Zeit seines Lebens große Angst vor dem Gang zum Tierarzt. Er warf sich vor der Praxis panisch auf den Rücken und war auch nicht mit Hilfe von Wurst umzustimmen, sodass wir das 35 Kilo schwere, zitternde Tier hineintragen mussten. Die Impfungen haben ihm nicht geschadet, im Gegenteil, er war abgesehen von einigen Sportverletzungen nie krank. Vor wenigen Tagen ist er im Alter von fast 16 Jahren friedlich und angstfrei gestorben - in Anwesenheit unserer Tierärztin.

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