Süddeutsche Zeitung

Schlafen in Coronazeiten:"Niemand träumt, was ihn nichts angeht"

Wie wirkt sich die Isolation auf das Bewusstsein aus? Die Wiener Psychologin Brigitte Holzinger über das nächtliche Gegrübel - und was wir aus unseren Albträumen lernen können.

Von Martin Zips

Träumt man in Corona-Zeiten womöglich intensiver als sonst? Wie wirkt sich die erzwungene Isolation auf das Bewusstsein aus? Ein Gespräch mit der Wiener Traumforscherin und Buchautorin Brigitte Holzinger.

SZ: Frau Holzinger, haben sich Ihre Träume in Zeiten von Corona verändert?

Brigitte Holzinger: Das wenige Rausgehen bewirkt natürlich was. Und es ist ja nicht so, dass man automatisch besser schläft, sobald es draußen ruhiger ist. Die sozialen Kontakte, die Bewegung, der Sauerstoff, all das fehlt jetzt. Und in Momenten des Strukturverlusts besteht für den einen oder anderen schon die Gefahr, dass er die Nacht zum Tag macht. Aber es ist auch eine Chance, die wir gerade haben. Wir können herausfinden, wie viele Stunden Schlaf für uns individuell richtig sind. Während des gewöhnlichen Arbeitsalltags ist so etwas wesentlich schwieriger.

Wie viele Gedanken sollte man sich über seine Träume in Corona-Zeiten machen?

Man sollte sich, wie auch sonst, mit seinen Träumen intensiv beschäftigen. Am besten man notiert sie detailreich nach jedem Aufstehen. Am besten noch in der Nacht.

In der Nacht?

Ja, dazu rate ich. Sonst vergisst man's. Ich hab eine ganze Billy-Regal-Breite voll mit meinen Traumaufzeichnungen. Aber klar, wenn das bei Ihnen zu Schlafstörungen führen sollte, dann schreiben Sie's lieber erst am nächsten Morgen auf.

Wieso sollte ich? Neurobiologisch sind Träume doch nur niedere Gehirnfunktionen.

Durch sie betrete ich einen Raum meines Bewusstseins, mit dem ich mich bisher viel zu wenig beschäftigt habe. In Österreich haben wir jetzt mehrere Wochen Corona-Isolation. Am Anfang mag das für manche ja noch ganz entspannend gewesen sein. Man träumte intensiver, so wie im Urlaub. Lag das vielleicht an der plötzlich so guten Luft in der Stadt? Nun aber berichten mir immer mehr Patienten über Angstträume. Das Virus erscheint ihnen nachts als Bedrohung. Manche träumen von Mundschutz, Putzen, Angst vor Berührung ...

Der Philosoph Heidegger sagt: Ein Traum sei nur eine weitere "Art, in der Welt zu sein".

Richtig. Und in der Gestalttherapie sieht man das ähnlich wie Heidegger. Dort spricht man von der phänomenalen Welt, die eine ähnliche Form der Wahrnehmung besitzt wie das Wachleben. Bei einigen Menschen mag die durch Ausgangsbeschränkungen erzwungene äußere Ruhe vielleicht zu einer inneren Ruhe führen. Bei anderen aber genau zum Gegenteil. Für den einen ist das Ausschalten des Weckers ein Geschenk, für den anderen eine Herausforderung. Das hängt auch mit der Einstellung zusammen, mit der man sich in eine solche Krise begibt.

Und was bringt diese Erkenntnis?

Inspiration. Ein Traum ist wie ein Kunstwerk. Es könnte sich lohnen, sich mit seinen Inhalten zu beschäftigen. Denn die sind so etwas wie eine eingebaute Psychotherapie. Natürlich muss ich mich nicht am nächsten Tag gleich scheiden lassen, bloß weil ich das nachts geträumt habe. Ich könnte aber zum Beispiel darüber nachdenken, was ich tagsüber tun könnte, damit es erst gar nicht so weit kommt. Indem ich meine Träume in Worte fasse, muss ich mich damit auseinandersetzen und kann so zur Ruhe zu kommen. Die wirksamste Bekämpfung von Albträumen, das hat unsere Forschung gezeigt, ist unsere bewusste Auseinandersetzung mit ihren Inhalten.

Wie schön für die, die gerade nicht mit der ganzen Familie in Selbst-Isolation ausharren. Da hat man nämlich wenig Zeit für so was.

Aber man kann doch morgens beim Frühstück darüber sprechen und sich von den Gedanken anderer inspirieren lassen! Eindimensionale Deutungen, wie sie manche "Traumdeuter" anbieten, lehne ich ab. Nur der Träumer kann verstehen, was sein Traum will.

Sagen Sie, Frau Holzinger, träumen Männer eigentlich häufiger von Sex als Frauen?

Die wenigen Studien, die es dazu gibt, gehen in diese Richtung. Mehr Erotik, mehr Aggression, mehr Karriere, mehr Gewalt - das unterscheidet träumende Männer von träumenden Frauen. Aber gut, so ein Unterschied der Geschlechter muss ja nichts Schlechtes sein.

Ja, eben. Auch Filmregisseur James Cameron soll seinen "Terminator" zunächst geträumt haben.

Jeder nutzt die Energie auf seine Weise! Und niemand träumt, was ihn nichts angeht. Erst recht nicht in Corona-Zeiten.

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