Eigentlich hat Hu Wei gerade ganz andere Probleme. Seit zwei Tagen kommt sie nicht mehr ins Internet. Dabei würde sie so gerne chinesische Zeitungen lesen oder ihren Freunden schreiben. Es klappt nicht. So kann die Germanistik-Studentin gar nicht berichten, wie das Leben dieser Tage so ist, in Bayern. Schade. Gerade jetzt.
Es ist nicht so, dass Frau Hu schon immer davon geträumt hätte, in Dietfurt an der Altmühl Fasching zu feiern. Es hat sich halt so ergeben und weil Hu Wei schon in Stuttgart war, in Bayreuth, in Heidelberg, nur im Altmühltal noch nicht, ist sie einfach mitgefahren. In Dietfurt wird seit rund 50 Jahren der letzte Donnerstag in der sogenannten "närrischen Zeit" ganz speziell zelebriert. An diesem Tag setzen sich fast alle 6000 Einwohner des Oberpfälzer Ortes, ebenso wie die meisten ihrer zehn-, zwanzigtausend Gäste, lustige Hüte auf. Sie werfen sich in gelbe Gewänder, mit Schriftzeichen drauf, die sie nicht verstehen, und malen sich das Gesicht gelb an. Der Metzger verkauft "walmen Lebelkäs", der Bäcker "Hölnchen" und Bürgermeister Alois Hengl spielt den Obermandarin. Es fließt Reiswein und Törring-Bier in Strömen - bis um neun Uhr am nächsten Tag. Dann muss sich selbst der frisch gekrönte Kaiser von der Zeit erholen, in der Dietfurt "Bayerisch China" war.
Hu Wei ist eine sehr ruhige, hübsche Frau. Eineinhalb Jahre möchte die 23-jährige Tochter einer Volksschullehrerin aus der chinesischen Hafenstadt Ningbo in Bayern studieren und arbeiten. Seit Oktober wohnt sie in München, überblickt von ihrem Balkon aus den Olympiapark, liest deutschsprachige Literatur von Robert Walser und Ilse Aichinger und abends geht sie in die Oper. Hu Wei, das sagt sie selbst, würde in Deutschland wohl eher nicht zu den Leuten gehören, die sich an einigen Tagen des Jahres besonders lustig anziehen, um sich besonders fröhlich aufzuführen. Andererseits: So furchtbar findet sie den Chinesen-Fasching an der Altmühl nun auch nicht. Mit modischer Baskenmütze auf dem Kopf lacht sie viel und herzlich und ist zu den Menschen auch dann sehr nett, wenn diese sehr betrunken sind.
Das mit "Bayerisch China" kam so: Im Mittelalter, heißt es, schützten sich die Dietfurter vor den Steuereintreibern des Bischofs durch das konsequente Verriegeln ihrer Stadttore. Gierige Kämmerer sollen an Dietfurts Wällen gescheitert sein, wie andere an der Chinesischen Mauer. Drum war der Ort bald als "Chinesen-Viertel" bekannt. Doch erst nach dem Krieg besann man sich auf derlei Tradition und heute bildet der fernöstliche Festzug den unbestrittenen Höhepunkt des Gemeinde-Jahres.
Für die Wirtsleute bedeutet das Ereignis neben Bergen von Scherben und Halbverdautem ein hervorragendes Geschäft. Weil etwa im "Gasthaus Scheippl" schon beim Frühstück kein Stuhl mehr frei ist, hat man in diesem Jahr zusätzliche Sitzgelegenheiten in die Küche gestellt. Direkt neben dem Herd findet auch Hu Wei noch einen Platz und kann der kräftigen Wirtin Elisabeth beim Kochen zusehen. Es gibt drei Speisen zur Auswahl: Wiener mit Kraut, Ripperl mit Kraut und Knacker mit Kraut. Die Wirtin in der violetten Schürze erzählt vom Kaiser Boo-Da-Washy, der ein Viertel Jahrhundert lang immer wieder den Thron bestieg. Eigentlich habe der Boo-Da-Washy ja Hans Geyer geheißen und sei Friseur gewesen. Aber weil Friseure in der Oberpfalz auch "Bodawaschl" genannt werden, war Geyer halt der Boo-Da-Washy. Zum selbigen wurde er alle zwölf Monate neu gekürt, getauft, gekrönt und am Faschingsdienstag zuletzt im Sarg von Gasthaus zu Gasthaus getragen. Dort verabschiedete sich der Regent von seinen Untertanen und verschwand in der Versenkung. "Im letzten Jahr hatte der Geyer Hans dann einen Schlaganfall und ist gestorben", sagt die Wirtin Elisabeth und wirft Sauerkraut in den Topf. "Das war schade, so kurz vor Fasching."
Lange bemüht sich Hu Wei, mit Messer und Gabel durch die Wursthaut zu dringen. Dann legt sie das europäische Esswerkzeug beiseite und sagt höflich lächelnd: "Ich möchte, bitte, mit den Fingern essen dürfen." Dagegen haben auch die Semi-Mandarin-Männer vom Nachbartisch nichts. Im Gegenteil. Angelockt von so viel Authentizität braucht es nicht lange, bis sie unaufgefordert bei der sympathischen Frau am Tisch sitzen. Jenseits von Alkoholfahne und Urlauten lernt sie so ein paar aufgeschlossene Einheimische kennen. "Süd-Chinesen sind meistens auch viel direkter als Nord-Chinesen", sagt sie später. Die jungen Männer erzählen von "den Auswärtigen, die am Fasching hier randalieren". Heuer habe die Polizei mit 25 zusätzlichen Beamten sicherheitshalber sogar eine extra "Faschings-Station" in der Innenstadt eingerichtet. Damit die Besucherin aus dem Reich der Mitte nun aber nicht ganz abgeschreckt wird, zieht noch einer schnell seine Videokamera heraus und zeigt Hu Wei auf einem Monitor bunte Szenen von der Kaiser-Taufe vor ein paar Tagen. Mit Ton. "Schee, gell?" Mit Hu Wei kann man sich, nebenbei gesagt, auch sehr gut über chinesisches Essen unterhalten (Fang Yuan soll köstlich sein), über das Frühlingsfest Yuan Xiao, über Hundefleisch ("in Deutschland bleiben die Hunde zu Hause und die Kinder gehen weg, in China ist es umgekehrt"), oder darüber, dass "man in China vor der Kaiserfamilie noch immer viel Respekt hat. " Doch die Jungs interessiert nur: "Gibst ma a Busserl, Wei?"
Draussen wird es schwer, noch irgendwo einen guten Blick auf den Festzug zu erhaschen. Oder? "Natürlich dürfen sie zu uns auf die Ehrentribüne", sagen zwei ältere Herren mit gelbem Kostüm und Korb-Hütchen. Einer ist Landtagsabgeordneter in München und hat einen künstlichen Ziegenbart, der andere ist Bundestagsabgeordneter und hat einen echten Bart. Zu Hu Wei sind beide sehr freundlich. "Wenn sie einmal in Berlin sind, kann ich ihnen die Reichstagskuppel zeigen", meint der Berliner. "Und ich das Maximilianeum", sagt der Münchner. Frau Hu lacht.
Der Zug zieht an der Ehrentribüne vorbei, die Menge schreit "Kille- Wau". Warum "Kille-Wau"? "Ist halt so ein Spruch", meint eine Chinesin aus Meckenhausen und drückt Wei ein Likör-Fläschchen in die Hand. Auch der Name des neuen Kaisers Ko-Houang-Di ist vielen zunächst ein Rätsel. Bis Wei erklärt, dass Houang-Di "Sohn des Himmels" heißt. Ein Ortskundiger addiert, der neue Boo-Da-Washy nenne sich im wirklichen Leben Fritz Koller. Daher das "Ko". Was folgt, ist ein prunkvolles Defilee. Drei Stunden und über 50 Faschingsvereine später erklimmt der neue Kaiser drei Dutzend Stufen, die zu seinem Thron, hoch über dem Dach des "Gasthofs zur Post" führen. Sein Regiment ist kurz und heftig: Krönung, Feiern, Faschingsdienstag - und aus.
Bis zum Aschermittwoch will Hu Wei nicht in Dietfurt bleiben. Sie muss sich darüber gewundert haben, dass im Festzug auf dem Stoff-Drachen die Werbung einer Luftlinie zu lesen war. Oder darüber, dass deutsche Politiker das Yin-Yang-Zeichen nicht kennen. Oder darüber, dass die Kapelle kurz vor Ankunft des Kaisers "Anton aus Tirol" spielte. "Das ist so, als wenn wir uns in China über den Papst lustig machen würden", sagt sie. Keine Ahnung, was Hu Wei heute Abend ihren Freunden auf der anderen Seite der Welt erzählen wird. Falls sie dann wieder ins Internet kommt.