Dem Geheimnis auf der Spur:Heldenhafter Vogel

Dem Geheimnis auf der Spur: Die ausgestopfte Brieftaube Cher Ami kann man im National Museum of American History in Washington besichtigen.

Die ausgestopfte Brieftaube Cher Ami kann man im National Museum of American History in Washington besichtigen.

(Foto: wikimedia commons/National Museum of American History/CC0)

Die Brieftaube Cher Ami rettete im Ersten Weltkrieg knapp 200 US-Soldaten das Leben. Vor Kurzem wurde ein letztes ungeklärtes Detail über sie bekannt. 

Von Carolin Werthmann

Charles Darwin, der Evolutionsbiologe, wusste Tauben zu schätzen - anders als der Stadtmensch des 21. Jahrhunderts. Taubenkot auf dem Balkon ist ja auch eine Zumutung, dann noch die Nester und das Gurren unterm Dach, gekaperte Fußgängerzonen, der Weg zu H&M gesäumt von diesen Geschöpfen mit kleinem Hirn, McDonald's-Pommesresten und Zigarettenstummeln zwischen den Krallen, wenig Kopf und viel Hals und körnergroßen Augen, aus denen nichts als Stupidität spricht. Dumm und dreckig, das ist das gängige Vorurteil über diese Vögel. Hätte man mal Charles Darwins erstes Kapitel des Hauptwerkes "Zur Entstehung der Arten" gelesen: eine mehrseitige Hymne auf die Taube und deren Diversität. Für seine Rassenforschung ließ sich Darwin extra in zwei Londoner Tauben-Klubs aufnehmen. Schon mal vom "kurzstirnigen Purzler" gehört?

Tauben leiten nicht nur das wohl bekannteste evolutionstheoretische Werk der Geschichte ein. Tauben sind Navigationswunder und Orientierungskünstler, haben ein hervorragendes visuelles Gedächtnis und ein komplexes Wahrnehmungsvermögen, sind treue Partner - und in manchen Fällen sogar Lebensretter. Zu Kriegszeiten wurden sie als Spione und Boten eingesetzt, übermittelten Nachrichten, wenn Radio und Telegramm nicht funktionierten. Wie etwa Kaiser, eine deutsche Militärtaube, die von Amerikanern nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschnappt, umerzogen und als äußerst potente Zuchttaube gehalten wurde. Oder der amerikanische Täuberich G. I. Joe, der im Zweiten Weltkrieg von sich reden machte. Wegen seiner Verdienste bekam er als einzige Auslandstaube die Dickin Medal verliehen, eine Auszeichnung, die eigentlich nur britischen Kriegstieren vergönnt war.

Auf einem Auge erblindet und mit einem zerfetzten Fuß schaffte es die Taube zum Ziel

Und dann ist da noch die berühmte Brieftaube Cher Ami. Ihre Geschichte ist kein Geheimnis, beim National Museum of American History und der Smithsonian Institution kann man sich ausführlich darüber informieren. Was aber lange niemand mit Sicherheit wusste: Ist Cher Ami ein Held oder eine Heldin?

Cher Ami war eine von 600 Brieftauben des U. S. Army Signal Corps, installiert in einem mobilen Taubenschlag in Frankreich während der Maas-Argonnen-Offensive im Ersten Weltkrieg. Am 4. Oktober 1918 wurde ein Bataillon der 77. US-Infanteriedivision, das "Verlorene Bataillon", von deutschen Truppen in den Argonnen eingekreist, abgeschnitten von der eigenen Front. Die Gruppe geriet aus Versehen unter Beschuss der amerikanischen Artillerie, als einziges Kommunikationsmittel blieben Tauben. Der Anführer des Bataillons, Major Charles Whittlesey, schickte eine nach der anderen los, ohne Erfolg, bis nur noch Cher Ami übrig blieb. Whittlesey schnürte eine Nachricht um das Bein der Taube. Notiert sind der Standort, die aussichtslose Lage - und eine Aufforderung. "For heaven's sake, stop it." Um Himmels willen, stoppt das Feuer. So nachzulesen im US-Nationalarchiv.

Kurz nach Cher Amis Aufbruch sahen die Soldaten ihre Hoffnung zu Boden segeln, getroffen vom Kugelhagel. Nun beginnt der heroische Teil der Geschichte, man muss sich dazu Hollywood-Blockbuster-Triumph-Musik vorstellen: Cher Ami rafft sich trotz Verletzungen wieder auf, fliegt weiter, legt 40 Kilometer in einer halben Stunde zurück. Auf einem Auge erblindet, mit Brustschuss und einem zerfetzten Fuß schafft es die Taube zur Basis und überbringt die Nachricht. Die Gefechte verlagern sich, 194 Soldaten des Verlorenen Bataillons gelingt die Rückkehr in die eigenen Reihen. Cher Ami wird mit dem französischen Orden Croix de Guerre ausgezeichnet und in die USA zurückgebracht. Ob die Rettungsaktion des Vogels tatsächlich so dramatisch war, wie die Berichte vermuten lassen, bleibt ungewiss.

Im Labor wurde der Vogel auf geschlechtsspezifische DNA-Sequenzen untersucht

Ein halbes Jahr nach dem Einsatz starb Cher Ami in New Jersey. Das Signal Corps übergab den Kadaver an das Smithsonian's National Museum of Natural History zur Konservierung. Dort wurde er obduziert, präpariert, ausgestopft und im Jahr 1921 ausgestellt. Dass der Vogel männlich war, wurde schlicht angenommen und nicht hinterfragt, wozu auch. Das erklärt wiederum den Namen Cher Ami, der andernfalls Chère Amie hätte lauten müssen. Es ist die französische Grußformel zu Beginn eines Briefes: Lieber Freund.

In Wahrheit ist das Geschlecht von Tauben grundsätzlich rätselhaft und kaum mit bloßem Auge zu erkennen. Täuberiche seien zwar oft kräftiger als Täubinnen, heißt es, und auch der Abstand der Legebeine kann ein Indiz sein. Gewissheit bringt aber nur eine DNA-Analyse. Die Smithsonian Institution in Washington, die den ausgestopften Vogel aufbewahrt, hat 2021 eine solche DNA-Analyse durchgeführt, hundert Jahre nach seiner Erstausstellung. Eine Wissenschaftlerin des Labors des National Museum of Natural History und ein Genforscher entnahmen dem Stumpf von Cher Amis rechtem Fuß Gewebeproben. Im Labor wurde die Probe mithilfe des inzwischen berüchtigten PCR-Tests auf geschlechtsspezifische DNA-Sequenzen untersucht. Das Ergebnis ist eine Bestätigung: Cher Ami muss nicht in Chère Amie umgetauft werden. Der Vogel, der knapp 200 Soldatenleben rettete, ist eindeutig männlich.

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