Burn-out-Syndrom:"Die heutige Arbeit passt nicht zum Menschen"

Keine Anerkennung vom Chef, familiäre Stresssituationen: Therapeut Manfred Nelting über Ursachen und Behandlung eines Burn-out.

Birgit Lutz-Temsch

Manfred Nelting hat gemeinsam mit seiner Frau vor fünf Jahren die Gezeitenhausklinik in Bonn, ein Fachkrankenhaus für Psychosomatische Medizin und Traditionelle Chinesische Medizin gegründet. Nelting, Geschäftsführer und Ärztlicher Direktor der Klinik, ist Facharzt für psychotherapeutische Medizin, Allgemeinmedizin und Homöopath. Die Klinik ist spezialisiert auf die Behandlung von Burn-out-Syndromen.

Burn-out

Dauerhafter negativer Stress, egal ob beruflich oder privat, kann zum Burn-out führen.

(Foto: Foto: iStock)

sueddeutsche.de: Wie kommt es zu einem Burn-out-Syndrom?

Manfred Nelting: Wenn der Anforderungsdruck im Leben - egal ob beruflich oder privat - und die Bewältigungskompetenz über einen längeren Zeitraum nicht zusammenpassen, dann läuft man Gefahr, in ein Burn-out-Syndrom zu geraten.

sueddeutsche.de: Wie stellt man fest, dass ein Burn-out naht, dass man mehr als nur gestresst ist?

Nelting: Wenn man merkt, dass sich der eigene Zustand ändert. Wenn man dauernd Infekte hat, einen Hörsturz, Magenschmerzen. Wenn man Angst vor der Arbeit hat - wenn also grundlegende Dinge einen anderen Charakter haben als früher. Dann lohnt es sich, mit einem Arzt zu sprechen. Das kann dann ein Burn-out sein, oder eine andere Erkrankung, die es einem erschwert, die normale Leistung zu erbringen. Das muss man abklären lassen.

sueddeutsche.de: Welche Menschen sind vor allem betroffen?

Nelting: Engagierte Menschen. Wer innerlich gekündigt hat oder Arbeit nach Vorschrift macht, ist weniger burn-out-gefährdet. Burn-out-Patienten halten das, was sie machen, für richtig. Sie investieren also in ihren Weg, machen Karriere, sorgen dafür, dass sie Geld verdienen. Wenn man diese Investitionen einmal gemacht hat und dann feststellt, dass der Weg doch nicht richtig ist, ist es sehr schwer, diesen Weg zu verlassen - denn dann müsste man ja sozusagen alle Investitionen abschreiben. Deswegen kommt es also zu Verzögerungen. Später, wenn man wesentlich tiefer drinsteckt und schon sehr erschöpft ist, versucht man, sich die Situation schönzureden.

sueddeutsche.de: Man täuscht sich dann selbst.

Nelting: Ja. Jemand mit fortgeschrittenem Burn-out hat keine klare Sicht mehr auf seinen eigenen Zustand. Schönreden, Medikamente, auch Drogen, wie beispielsweise Alkohol - das gehört zu dieser Täuschungsphase. Mit einem fortgeschrittenen Burn-out kommen die Menschen in der Regel nicht selbst zu uns, sie werden gebracht, von Partner, Kindern oder Hausarzt. Der Patient wird sich erst einmal winden, und sagen, es sei alles halb so wild, er könne sich ja mal zwei Tage ausruhen. Zum fortgeschrittenen Burn-out gehört meist eine völlige Fehleinschätzung der eigenen Situation.

sueddeutsche.de: Auch privat kann es zu Überforderung kommen. Ist ein privates Burn-out dem beruflichen ähnlich?

Nelting: Private Burn-out-Situationen kommen zustande, wenn man zum Beispiel bei voller Leistungserbringung einen andauernden Ehestreit hat, wenn die Partner verstummt sind, wenn eine Entscheidung nötig wäre, aber nicht gefällt wird. Solche Zustände können ungeheure innere Erregung verursachen, die sehr anstrengend ist. Auch ein behindertes Kind oder Eltern, die gepflegt werden, können zu einem zu großen Anforderungsdruck im Privaten führen. Wenn dann noch Geldmangel hinzukommt, kann es schlicht zu viel werden. Von privaten Burn-outs sind deshalb meistens Frauen betroffen, die ja am meisten mit Doppelbelastungen zurechtkommen müssen. Gleichzeitig trauen sich Frauen lange zu, dass sie das hinbekommen. Frauen glauben oft, dass diese Belastung schlicht ihre Aufgabe ist und sie es schaffen müssen.

Im Gespräch bleiben

sueddeutsche.de: Dass sie also gar keine andere Wahl haben?

Manfred Nelting

Manfred Nelting

(Foto: Foto: privat)

Nelting: Genau. Da wird die grundsätzliche Möglichkeit der Änderung nicht gesehen, die Situation scheint unveränderbar.

sueddeutsche.de: Ab wann sollte man an professionelle Hilfe denken?

Nelting: Wichtig ist, dass man im Gespräch bleibt. Ein Burn-out-Merkmal ist, dass man nicht mehr im Gespräch ist, weder mit dem Partner noch mit Freunden noch mit Arbeitskollegen. Man sollte immer ausloten mit dem Partner oder Freunden, wie die Situation gerade ist. Das kann man auch mit dem Hausarzt, zum Beispiel, wenn man sich überlastet fühlt. In unserer Gesellschaft verstecken sich die Menschen aber immer mehr hinter einer Maske, Gespräche werden abgebrochen, weil man sich ohnmächtig fühlt. Man nimmt das Ergebnis des Gesprächs schon vorweg - denn "es geht sowieso nicht".

sueddeutsche.de: Gespräche erscheinen dann unnütz.

Nelting: Ja. Das ist ein hoher resignativer Aspekt, auch oft ein hoher depressiver Aspekt. Ein Burn-out mündet im Allgemeinen in einer schweren Depression. Davor gibt es ein gewisses Sinnlosigkeitsempfinden, das man aber nicht auf die eigene Situation bezieht, sondern auf das Leben im Allgemeinen, den Partner, die ganze Welt. Man sucht die Schuld immer außen, weil man sich selbst als ohnmächtig sieht, zu handeln. Das ist nicht bösartig, sondern eine Form von Hilflosigkeit.

sueddeutsche.de: Wie gehen Sie bei der Behandlung vor?

Nelting: Die Betreffenden sind mit ihrer Lebenskraft sehr, sehr erschöpft. Ein Burn-out entwickelt sich über Monate oder Jahre. Viele haben Schlafstörungen, nehmen Medikamente gegen Bluthochdruck, gegen Magenschmerzen, viele nehmen Psychopharmaka. Man macht dann erst einmal eine Bestandsaufnahme und versucht, am Vertrauen zu arbeiten. Im Allgemeinen ist dann eine Kurzpsychotherapie fällig, um den Betreffenden in seinem Selbstwert zu stärken. Hinzu kommen andere Maßnahmen, um die Erschöpfung zu lindern. Bei einem fortgeschrittenen Burn-out ist eine stationäre Behandlung nötig.

sueddeutsche.de: Wie muss man sich einen solchen Aufenthalt vorstellen?

Nelting: Das ist nicht ganz einfach. Der Betreffende braucht oft erst einmal etwa zwei bis drei Wochen, um seine volle Erschöpfung überhaupt zu spüren. Dann ist die Wahrnehmungsfähigkeit endlich wieder da. Im Mittelpunkt der stationären Therapie steht die psychosomatisch-psychotherapeutische Behandlung der Depression und der Ängste. Parallel dazu geht es um Regulation, den Energieaufbau, um Kräftigung. In der Gezeitenhausklinik wenden wir dazu die Methoden der chinesischen Medizin an, wie Qigong. Das funktioniert sehr gut. Die Menschen müssen aus ihrem chronsichen Stress, ihrem chronischen Cortisol-Überschuss, ihrer Depression herausgeführt werden, und das dauert einige Zeit. Man stellt in der Psychotherapie fest, dass die Betreffenden nach außen in ihrer Maske großartig sind und dass der Selbstwert dahinter völlig zusammengebrochen ist. Das greift ineinander. Die Möglichkeiten, wieder ganz herauszukommen, sind sehr gut. Und wer aus einer solchen Krise wieder auftaucht - und es handelt sich dabei ja um eine Lebenskrise - ist hinterher gesünder, er geht gestärkt daraus hervor.

Freiräume erkämpfen

sueddeutsche.de: Erarbeiten Sie dabei auch Verhaltensweisen in der Arbeitswelt?

Nelting: Sehr wichtig ist etwas Gestaltungsspielraum in der Arbeit. Der Vorgesetzte muss begreifen, dass es gut ist für die Firma, wenn die Mitarbeiter Spielräume haben und selbst gestalten können.

sueddeutsche.de: Wie geht das im privaten Bereich?

Nelting: Da stößt man manchmal an Grenzen. Gerade Alleinerziehende oder Frauen, die jemanden pflegen, müssen darauf achten, dass sie sich selbst Freiräume erhalten. Und wenn es ein freier Vormittag in der Woche ist, an dem man sich eine Vertretung finanziert, selbst wenn das schwierig ist. Man kann nicht permanent das gleiche Programm durcharbeiten, wenn man nicht zwischendurch mal Luft holt, und wieder ins Lot kommt. Wenn es privat zu tragischen Situationen kommt - so etwas kann man durch Behandlung allein nicht ändern. Dazu müsste sich dann auch gesellschaftlich noch mehr tun, dass Menschen in Notsituationen mehr Unterstützung erfahren. Eigenverantwortung ist wichtig, aber auch die gesellschaftliche Verantwortung wäre in manchen Fällen gefragt.

sueddeutsche.de: Warum nehmen Burn-out-Fälle in den letzten Jahren so zu?

Nelting: Früher gab es in der Arbeitswelt andere Gefahren, da gab es Unfälle, Todesfälle, Verschleißkrankheiten, aber die Arbeitsplatzsicherheit war höher. Heute hat der Anteil der psychischen Krankheiten so stark zugenommen, dass man sagen kann: Die heutige Arbeitswelt bietet nicht mehr das, was ein Mensch eigentlich braucht. Es wäre also an der Zeit, sich mal Gedanken darüber zu machen, welche Rahmenbedingungen die Arbeitswelt bieten muss, damit wir mit unserem menschlichen Regulationssystem, unserem Stresssystem noch damit zurechtkommen. Heute haben die Menschen ständig Angst, dass sie der Nächste sind bei Entlassungen. Auf allen Stufen, vom Arbeiter bis zum Vorstand. Nur dass der Vorstand noch das Glück seiner Abfindungsvereinbarung im Hintergrund hat.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielt der Sport in der Behandlung?

Nelting: Der Körper steht stark im Focus. Bei Joggen oder Tennis zum Beispiel erschöpfen sich die Menschen aber tendenziell. Doch es soll sich darum drehen, dass körperliche Kraft erzeugt wird. Alles was ich nur äußerlich mache, ist beim Burn-out falsch. Hier müssen die Tiefenmuskeln und die Wahrnehmung der muskulären Situation gestärkt werden, damit wir Qualität in die Muskulatur bekommen. Genau das macht man mit Qigong.

sueddeutsche.de: Wenn man nun an einem Burn-out-Syndrom leidet - bezahlt die Behandlung die Kasse?

Nelting: Leider ist das Syndrom noch nicht als Diagnose anerkannt. Das heißt, die Menschen kommen dann wegen der begleitenden Folgeerkrankungen, also zum Beispiel wegen eines schweren Tinnitus, Depression oder Panikattacken. Auf diese Weise kommen die Patienten aber meistens sehr spät zu uns. Burn-out müsste als eigene Diagnose anerkannt werden, auch damit rechtzeitig behandelt werden kann.

sueddeutsche.de: Wie kann man einem Burn-out vorbeugen?

Nelting: Durch Gelassenheit, Gelassenheit kann man sich auch antrainieren, man kann sich selbst wieder ins Lot bringen. Ein sehr gutes Mittel ist unserer Erfahrung nach Qigong. Damit kann ich in so viele Kreisläufe günstig eingreifen, dass man hinterher aus dem vollen, tollen Potential schöpfen kann. Nach der Behandlung muss man die Grenzen wahrnehmen. Und danach handeln. Wirksam ist auch das System der Lebenspflege, wenn man künftig in einen anderen Zustand gelangen will: Man hat mir dieses Erdendasein anvertraut, ich muss mich aber auch darum kümmern. Mit dieser Haltung kommt man eher aus einem Burn-out heraus - und bekommt auch später keines mehr.

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