Vom Selfie zum Selbstmord kommt der Professor an diesem Abend in weniger als einer Minute. Er steht auf der Bühne einer schwäbischen Buchhandlung und blinzelt ins Scheinwerferlicht. "In Amerika hat sich die Suizidrate von Mädchen in nur sieben Jahren verdoppelt." Der Professor blickt in die entsetzten Gesichter in den ersten Reihen. Egal vor wem er spricht, dieser Vergleich zieht immer: je mehr Facebook und Instagram, desto mehr tote Jugendliche. "Und Sie wissen ja", er holt Luft. "Was in den USA passiert, haben wir zehn, fünfzehn Jahre später auch hier."
Die Lesung von Manfred Spitzer, 59, Chefarzt, Hirnforscher und so erfolgreicher wie umstrittener Sachbuchautor, ist seit Wochen ausverkauft. Schon zwanzig Minuten vor Einlass warten zwei Dutzend Fans vor der Tür. Es sind freundliche Damen und Herren um die 60, drei pensionierte Lehrerinnen tragen das neue Buch des Professors unter dem Arm. Es heißt "Einsamkeit, die unerkannte Krankheit". Und diese Krankheit, verrät das Cover, sei "schmerzhaft, ansteckend, tödlich"."
Digitalisierung:Ohne Netz geht gar nicht
Doris Albiez, Deutschland-Chefin von Dell EMC, kämpft für eine andere Bildungspolitik, die sich der digitalen Welt stellt und verknüpftes Denken in den Vordergrund rückt.: "Bulimie-Lernen muss aufhören."
Wenn künftige Generationen einmal wissen wollen, wovor die Menschen Anfang des 21. Jahrhunderts besonders viel Angst hatten, sind Spitzers Bücher die ideale Forschungsgrundlage. Man kann sie lesen wie eine Fieberkurve der Gesellschaft.
Mitte der Nullerjahre schrieb er "Vorsicht Bildschirm!". Darin rechnete er vor, dass die Nebenwirkungen von Fernsehern und Computern schon bald jährlich 40 000 Menschen umbringen würden. Es folgten die Bestseller "Digitale Demenz" und "Cyberkrank!". Dort schrieb Spitzer der Nutzung von Videospielen, sozialen Netzwerken und Smartphones ebenso apokalyptische Folgen zu. Angesehene Forscher nennen die Bücher "unseriös" und "irreführend", trotzdem gehören sie zu den erfolgreichsten auf dem deutschen Buchmarkt: Allein "Digitale Demenz" hat sich mehr als 270 000 Mal verkauft. In diesem Jahr ist die Einsamkeit dran, ein großes Thema der Gegenwart. Oder, wie Spitzer schon im Klappentext verrät: "die Todesursache Nummer eins".
Wer ist dieser Mann, der mit Sorgenfalten auf der Stirn durch die deutschen Talkshows tourt, den andere, sonst um Sachlichkeit bemühte Professoren als "Sarrazin der Computerkritik" bezeichnen? Woher stammt Spitzers Gespür für die Ängste der Deutschen? Und warum ist er so erfolgreich?
Manfred Spitzer ist Chefarzt einer kleinen psychiatrischen Uniklinik in Ulm. In seinem Besprechungszimmer mit Blick über die Stadt steht ein Gehirn aus grauem Stein, groß wie ein Fußball, gehalten von zwei steinernen Händen. Spitzer lässt sich gern damit fotografieren. In dem Zimmer findet das erste Interview statt, im Januar 2017. Ein Fernsehteam filmt, und während die Kamera läuft, läuft auch Spitzers Charme auf Hochtouren. Er redet leidenschaftlich, rattert Zahlen aus dem Kopf herunter. Wer als Journalist gelegentlich mit Wissenschaftlern zu tun hat, mag Spitzer sofort: ein knalliger O-Ton nach dem anderen, kein Zögern, kein Abwägen, kein "So eindeutig kann man das nicht sagen". Im Gegenteil. Tablet-Computer für Kinder? "Wie Zigaretten!" Medienkompetenz als Unterrichtsfach? "Wir unterrichten doch im Kindergarten auch keine Alkoholkompetenz!"
Ein typischer Spitzer-Satz, aus einem seiner Bestseller, geht so: "Meiden Sie digitale Medien. Sie machen (...) tatsächlich dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich."
Einen typischen Spitzer-Satz erkennt man auch daran, dass man sich selbst möglicherweise beim Nicken ertappt. Spitzer-Sätze klingen logisch, decken sich mit dem gesunden Menschenverstand. Und sie berühren ein Unwohlsein, das fast jeder Erwachsene kennt, der hin und wieder mit Jugendlichen zu tun hat. Smartphones machen süchtig? Bestimmt. Computerspiele dumm? Klingt vernünftig. Soziale Medien neidisch und traurig? Vermutlich ja.
"Ist es für Sie vielleicht auch alarmistisch, wenn jemand vor dem Klimawandel warnt?!"
In Wahrheit ist die Sache keineswegs so eindeutig. Spitzers Thesen sind wissenschaftlich mindestens umstritten, oft interpretiert er Zahlen einfach so, wie es ihm passt. Aber die Warnung vor dem digitalen Weltuntergang holt sein Publikum genau da ab, wo es steht: ratlos und etwas verängstigt vor einer Entwicklung, die es nicht mehr ganz begreift. Ein großer Teil von Spitzers Erfolg erklärt sich also schlicht so: Ihm zu glauben ist leichter, als ihm nicht zu glauben.
Auch Markus Appel, Professor für Medienkommunikation in Würzburg, war beeindruckt. Zumindest auf den ersten Blick. Vor einigen Jahren, Spitzer hatte gerade "Digitale Demenz" veröffentlicht, sah Appel ihn in einer Talkshow. "Ich dachte, erstaunlich, was er da sagt. Diese Radikalität, diese Rhetorik." Nur: Appel hatte die Studienergebnisse, die Spitzer im Fernsehen zitierte, ganz anders in Erinnerung. Er besorgte sich Spitzers Buch und begann es gemeinsam mit einer Kollegin zu überprüfen. Satz für Satz, Fußnote für Fußnote.
Anfang 2014 veröffentlichten der Medienprofessor und seine Kollegin Constanze Schreiner ihren zehnseitigen Befund in der Psychologischen Rundschau. Eine Ohrfeige für Spitzer: Nach Abgleich mit Dutzenden Meta-Analysen fänden sich "keine Belege" für die meisten von Spitzers Thesen. Sie werden in dem Papier "Mythen" genannt. Spitzer habe sich einzelne Ergebnisse herausgepickt, die zu seinen Thesen passten, und alles andere ignoriert. "Dieses schiefe Bild garniert er mit ein bisschen Hirnforschung, was natürlich viele Leute überzeugt", sagt Appel. "Nur mit guter Wissenschaft hat das wenig zu tun."
Wer Spitzer mit diesen Argumenten konfrontiert, kann sich auf einen gepfefferten Gegenangriff einstellen. Kritik an seinen Thesen sieht er als persönlichen Affront. Journalisten und Medienwissenschaftlern, er nennt sie "Medienfuzzis", unterstellt er, nur zu berichten, "was die Linie ist". Lieber gibt er ein knapp zweistündiges Interview auf einem Youtube-Kanal, der sich sonst mit Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 beschäftigt.
Nach seiner Lesung sitzt Spitzer in der Teeküche der Buchhandlung und ist außer sich. Der Reporter hat ein Wort benutzt, auf das der Professor allergisch ist. "Alarmistisch?!", platzt es aus ihm heraus. "Ist es für Sie vielleicht auch alarmistisch, wenn jemand vor dem Klimawandel warnt?! Herrgott, das ist so!" Er knallt sein Macbook auf den Tisch. Er klappt es auf und klickt sich durch ellenlange Powerpoint-Präsentationen. Schließlich bleibt er bei einer Grafik stehen. Viele Punkte in einem Koordinatensystem. Eine Achse zeigt die Entwicklung der Leseleistung von Schülern auf der ganzen Welt. Die andere Achse die Investitionen in Schulcomputer im jeweiligen Land. Manfred Spitzer schiebt jetzt ungeduldig den Laptop rüber. "Je mehr investiert wurde, desto schlechter wurden die Schüler. Wollen Sie's nicht kapieren, oder was ist mit Ihnen?"
Digitalisierung der Schule:Technik hat dem Menschen zu dienen
Nicht umgekehrt und auch nicht gleichgestellt. Das gilt besonders in der Pädagogik und damit an den Schulen.
Genau hier, sagen Fachleute, liegt das Hauptproblem von Spitzers Argumentation. Er interpretiert Korrelation kausal. "Das lernen unsere Studis im ersten Semester", sagt Peter Vorderer, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Mannheim, und klingt am Telefon fast belustigt. "Ein Beispiel: Im Frühjahr sehen Sie in Deutschland mehr Klapperstörche. Gleichzeitig kommen mehr Kinder auf die Welt." Wenn man wie Manfred Spitzer argumentiert, würden also die Störche die Kinder bringen.
Später, nach dem Interview, liest man die Studie genau durch. Direkt unter der Grafik stellen die Autoren klar, dass es sich um Korrelation handele. Nicht um Kausalität. Sprich: Es ist unklar, ob Schüler schlechter lesen, weil sie mehr Computer nutzen. Oder mehr Computer nutzen, weil sie schlechter lesen. Oder ob, das ist am wahrscheinlichsten, ein ganz anderer Grund vorliegt. Das mache es schwer, resümieren die Autoren, Richtlinien für die Politik daraus abzuleiten. Spitzer tut es trotzdem.
Dabei gibt es Situationen, in denen der Professor gern auf Gegenargumente eingeht: wenn er auf einer Bühne steht und keine Widerrede befürchten muss. "Aber Mannnfred", äfft er seine Kritiker nach. "Mannnfred, das kann man doch so nicht sagen! Es gibt doch gar keine Langzeitstudie, die belegt, ob ein iPad ein Baby wirklich dumm macht!" In der Buchhandlung schütteln zwei ältere Frauen in der vierten Reihe grinsend den Kopf. "Na ja, was soll ich sagen?", Spitzer guckt hilflos ins Publikum. "Ich brauch ja auch keine Doppelblindstudie, um zu wissen, dass ein Fallschirm lebensrettend ist, wenn ich aus dem Flugzeug springe!" Großes Gelächter. Es ist eine merkwürdige Rolle für einen Wissenschaftler, aber es ist die, in der Spitzer sich offenbar am wohlsten fühlt: der Klartext-Professor, der den engstirnigen Eierköpfen vorhält, was der gesunde Menschenverstand doch eh weiß.
Spitzer ist ein profilierter Mediziner. Schon mit 31 wurde er habilitiert, er war Gastprofessor in Harvard, sein jüngster wissenschaftlicher Aufsatz befasst sich mit der Hirnaktivität bei Patienten mit Borderline-Syndrom. Er ist zweifellos ein namhafter Psychiater. Aber in seinen Bestsellern schreibt Spitzer über die Wirkung von Medien. Und darin, sagen Fachleute, ist er objektiv gesehen nicht mehr als ein interessierter Laie mit starker Meinung.
"Ich brauch ja auch keine Doppelblindstudie, um zu wissen, dass ein Fallschirm lebensrettend ist."
"Er schreibt ständig", sagt einer seiner Freunde, Wulf Bertram, ein Stuttgarter Psychologe. "Und zwar mit einer Geschwindigkeit, die atemberaubend ist." Der Freund beschreibt Spitzer als eine Art Universalinteressierten, der "Dinge wahnsinnig schnell aufschnappt und sich darin vertieft". Spitzer spielt Schlagzeug, Saxofon, Gitarre und Klavier, sein Studium hat er sich als Alleinunterhalter finanziert. Die Anerkennung in der akademischen Welt, sagt Bertram, interessiere Spitzer nur am Rande. Viel lieber trete er mit der breiten Öffentlichkeit in Kontakt. "Ein gewisser Wunsch, gesehen zu werden und zu performen, ist wie bei vielen Bestsellerautoren natürlich auch dabei."
Anfang der Nullerjahre füllt Spitzer auf Lesereisen die ersten Hallen. Damals, notiert die SZ, verkündet der Hirnforscher "die frohe Botschaft einer neuen pädagogischen Bibel". Die freundliche These seiner Bücher: Lernen muss Spaß machen. Als er ein paar Jahre später das erste Buch über die schädliche Wirkung von Bildschirmen auf Kinder schreibt, hat er sein Thema gefunden. Das Warnen vor den Risiken der digitalen Welt sehe Spitzer seither als seine "humanistische Mission", sagt sein Freund. Und es scheint, als mache Kritik den Professor nur noch verbissener.
Ein paar Tage nach seinem Wutausbruch in der Teeküche kommt eine erboste Mail: keine weiteren Treffen. Fortan muss der Reporter Spitzer begleiten, ohne eingeladen zu sein.
Eine der Hauptthesen in Spitzers Buch lautet: Die Gesellschaft werde immer narzisstischer. Er belegt diese Behauptung, indem er eine Studie zitiert, die mithilfe von Google in Hunderttausenden amerikanischen Büchern häufiger das Wort "ich" und seltener das Wort "wir" gefunden hat als vor 50 Jahren. Andere Erklärungen, die man für dieses Phänomen vorbringen könnte, nennt er nicht. Man findet in seinen Büchern zahllose ähnliche Beispiele.
Ein Dienstagvormittag in München. Spitzer sitzt in der zweiten Reihe eines vollen Auditoriums und macht sich Notizen. Gleich geht sein Vortrag los. Waberndes blaues Licht, Technomusik. In der BMW-Welt findet ein Kongress für Marketing statt. Knapp vierhundert Menschen in gut geschnittenen Anzügen sitzen im Saal, jeder hat 780 Euro für den Tag bezahlt. Wenn Spitzers Warnung von den gefährlichen Bildschirmen aus dem Jahr 2005 zuträfe - die Leute hier, viele um die 30, müssten fettleibig, depressiv oder dement sein.
Man habe Professor Spitzer eingeladen, weil er polarisiere, erklärt der Veranstalter begeistert. "Wissenschaft ist ja sonst oft ein bisschen trocken." Spitzer, der Warner vor der digitalen Apokalypse, ist längst fester Teil der deutschen Vortragsbranche.
Auch an diesem Tag enttäuscht er nicht. Der Vortrag ist ein saftiges Medley der schlimmsten Gefahren der vernetzten Welt: Fake News, Wahlmanipulation, steigende Selbstmordraten. Spitzer schließt die Rede mit einem Seitenhieb auf die "deutsche Qualitätspresse", die ihn, Spitzer, ständig zu Unrecht als "Angstmacher" abstemple.
Fakten nur noch als wabernder Hindergrund
Wie sich Spitzer eine faire Berichterstattung vorstellt, kann man in der Fachzeitschrift Nervenheilkunde nachlesen. Spitzer ist seit vielen Jahren Herausgeber des Blattes. Es geht an 30 000 niedergelassene Ärzte, und in jeder Ausgabe schreibt der Professor persönlich das Vorwort. Im Wirbel um "Digitale Demenz" vor einigen Jahren beschwerte er sich dort über die Medien. Ein ARD-Beitrag über ihn sei ein "Lehrstück für den Umgang öffentlich-rechtlicher Medien mit unbequemer Kritik". Das gehässige Fazit des Films, das er in seiner Zeitschrift zitiert, fällt in dem im Netz abrufbaren Beitrag aber gar nicht. Dafür erwähnt Spitzer gleich im ersten Absatz, die erste Auflage seines Buchs sei "nach dem Erscheinungstag vergriffen" gewesen. Der Verlag Droemer Knaur teilt auf Anfrage mit: Es dauerte neun Tage.
Manfred Spitzer scheint Fakten nur noch als wabernden Hintergrund für die Präsentation seiner Wahrheit zu brauchen. Ganz genau sollen es bitte nur seine Gegner nehmen. In Ausgabe 1/2018 der Nervenheilkunde malt er im Vorwort mal wieder ein Schreckensbild: Zu den "Nebenwirkungen von Smartphones" gehörten demnach Suizidalität, Geschlechtskrankheiten und sogar die Gefährdung der Demokratie.
Der Professor endet mit einer Empfehlung an die geneigten Leser: "Wer mir nicht glaubt, (...) kann - und sollte sowieso - alles selbst googeln, denn im Bereich der Wissenschaft geht es nicht darum, etwas zu glauben, sondern darum, etwas begründet zu wissen."