Buch über "Lactivism":Muttermilch um jeden Preis

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Muttermilch als Superfood: Es geht mehr um das Produkt, weniger ums Stillen.

(Foto: imago/BE&W)

Mütter fühlen sich zum Stillen gezwungen, kritisiert Buchautorin Courtney Jung. Doch die Gesellschaft schafft keinen Raum dafür.

Von Karin Janker

Acht Saugstärkestufen, beidseitig und freihändig bedienbar - Muttermilchpumpen sind auf Effizienz getrimmt. Das innige Bild einer stillenden Mutter mit ihrem Baby verschwindet, schreibt Courtney Jung in ihrem Buch "Lactivism". Stattdessen gibt es neuerdings "Aufsätze, die an BHs andocken und es möglich machen, während des Abpumpens zu telefonieren oder sogar das Abendessen zu kochen - Ta-da!". Der Untertitel des Buches macht klar, worauf die Politikwissenschaftlerin es mit ihrer Analyse abgesehen hat: "Wie Feministinnen und Fundamentalisten, Hippies und Yuppies, Ärzte und Politiker aus dem Stillen ein großes Geschäft und eine schlechte Politik gemacht haben."

Jung, die an der University of Toronto lehrt, vollzieht in ihrem neuen Buch überzeugend nach, wie verschiedene Interessengruppen, von christlichen Fundamentalisten bis hin zu Unternehmern der Tech-Branche, sich junger Mütter angenommen haben - und nun Druck auf diese ausüben. Stillen war früher einmal ein feministisches Konzept: Frauen wollten sich nicht mehr von Ärzten sagen lassen, was gut für ihr Kind ist. Inzwischen ist von dieser Geste der Selbstbestimmung nicht mehr viel übrig.

Heute pumpen sich Geschäftsfrauen auf dem Weg zur Arbeit noch auf der Autobahn ihre Milch ab, während sie nebenbei über die Freisprecheinrichtung einen Termin vorbereiten. Courtney Jung hat mit solchen Frauen gesprochen, und diese fühlen sich keineswegs emanzipiert und frei, sondern vor allem unter Stress. Umfragen zufolge pumpen in den USA 85 Prozent der Mütter ihre Milch regelmäßig oder gelegentlich ab - und zwar, obwohl sie es als "demütigend und erniedrigend" empfänden. Zum Beispiel, weil sie sich dafür in einer Besenkammer auf dem Büroflur verstecken müssen. Denn die Gesellschaft will zwar, dass sie stillen, adäquate Rückzugsorte bietet sie dafür aber nicht.

Stillen galt lange als antikapitalistisch

Befürworter des Stillens hatten ein Argument, als sie Babynahrungsherstellern vorwarfen, in den 70er-Jahren Frauen in der Dritten Welt ihr Milchpulver angedreht und Muttermilch diskreditiert zu haben. Stillen war irgendwie antikapitalistisch und gegen das System - und damit politisch korrekt. Milchpulver hingegen war so etwas wie die Inkarnation des Kapitalismus, der nach unserem Nachwuchs greift. Doch das Argument zieht heute nicht mehr. Inzwischen hat sich das Wirtschaftssystem auch die Muttermilch einverleibt. Stillen ist selbst zum Geschäft geworden.

Unsere Gesellschaft verlangt von Müttern Unmögliches, schreibt Jung. Sie sollen Vollzeit arbeiten und gleichzeitig ihrem Baby die Brust geben. Oder zumindest ihre Milch. Denn nicht selten füttern Tagesmütter den Säugling mit der abgepumpten Milch, während die leibliche Mutter in der Arbeit ist.

Courtney Jung, selbst zweifache Mutter, hat ihre Kinder gestillt. Sie ist nicht gegen das Stillen, sie kennt die Erwartungen an Mütter, stillen zu müssen. Obwohl es die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen eigentlich kaum zulassen. In den USA haben Frauen so gut wie keine Möglichkeit, nach der Geburt in Elternzeit zu gehen. Jung schreibt, dass die meisten mit einer Konstruktion aus Kranken- und Urlaubstagen immerhin sechs Wochen nach der Geburt zu Hause blieben. 30 Prozent der Mütter nehmen allerdings überhaupt keinen Mutterschutz in Anspruch, sondern kehren direkt in die Arbeit zurück.

Mütter werden angefeindet, weil sie Fläschchen geben

Das Stillen erfuhr in den vergangenen Jahren eine politische und gesellschaftliche Aufwertung, die über Aufklärung und Ermutigung für Frauen weit hinausgeht. Es entstand, so Jung, ein gesellschaftlicher Zwang zum Stillen. Sie berichtet von Frauen, die in der New Yorker U-Bahn angefeindet wurden, weil sie ihr Baby mit Flaschenmilch fütterten. Und zitiert die Journalistin Hanna Rosin, die 2009 in einem Artikel in The Atlantic die These aufgestellt hat, dass der moralische Imperativ zum Stillen vor allem dazu genutzt werde, Frauen zu unterdrücken. Eine These, für die Rosin beschimpft und lächerlich gemacht wurde.

Die Realität in den USA stellt sich heute allerdings ziemlich exakt so dar, wie Rosin sie damals vorher gesehen hat: Frauen sollen möglichst direkt nach der Geburt im Job wieder so viel Präsenz zeigen wie zuvor - und gleichzeitig ihrem Kind die wertvolle Muttermilch nicht vorenthalten. Ein Zwiespalt, der die Frauen aufzureiben droht.

Eine der prominentesten Verfechterinnen des Breastfeeding, wie es auf Englisch heißt, ist das Model Gisele Bündchen. In einem Interview mit Harper's Bazaar forderte sie ein weltweites Gesetz, das Frauen dazu verpflichtet, ihr Baby sechs Monate zu stillen. Ein ähnliches Gesetz gibt es tatsächlich. In Saudi-Arabien.

Frauen reiben sich auf zwischen Milchpumpe und Job

Während Still-Aktivistinnen, sogenannte Lactivists, früher für das Recht, in der Öffentlichkeit zu stillen, kämpften, schränke ihr Übereifer die freie Entscheidung von Eltern inzwischen ein, schreibt Jung. Sie kritisiert diesen Druck, weil nicht alle Mütter gewillt oder überhaupt in der Lage seien zu stillen. Bei manchen bildet sich einfach nicht genug Milch, andere haben Schmerzen, wieder andere entscheiden sich gemeinsam mit ihrem Partner dafür, dass der nachts aufsteht und das Fläschchen gibt. Diesen Frauen ihr schlechtes Gewissen auszureden, ist eines der Anliegen von Courtney Jungs Buch. Kinder könnten auch ohne Muttermilch gesund großwerden, lautet ihre Botschaft. Denn: Die positiven Effekte des Stillens würden überschätzt und basierten auf wenig aussagekräftigen Studien.

Dennoch bleibt Frauen längst nicht mehr selbst überlassen, was sie als das Beste für sich und ihr Kind erachten. In den USA gibt es Kampagnen des Gesundheitsministeriums, die die Vorteile von Muttermilch anpreisen, mehrere Verbände klären in geradezu missionarischem Eifer vor allem junge Frauen und Migrantinnen darüber auf, wie gesund Muttermilch angeblich ist. Eigentlich die ursprünglichste Form, sein Kind zu ernähren, ist das Stillen heute vor allem unter weißen, gebildeten und wohlhabenden Frauen in den USA verbreitet. Stillen ist zum Statussymbol geworden.

Muttermilch lässt sich vermarkten

2012 hat sogar die WHO Pulver-Babymilch zu einem "Gesundheitsproblem" erklärt - und damit auf eine Stufe gestellt mit Rauchen, ungeschütztem Geschlechtsverkehr und Übergewicht. In manchen US-Krankenhäusern wird frisch entbundenen Müttern der Zugang zum Milchpulver nur in Notfällen gewährt, um sie so zum Stillen zu drängen. Und das, obwohl die meisten Studien, die die Vorteile von Muttermilch untersuchen, nicht unabhängig durchgeführt, sondern von den Herstellern von Milchpumpen finanziert werden, wie Jung herausgefunden hat.

Der größte Betrug an den Frauen, argumentiert Jung, liege aber darin, dass ihnen weißgemacht werden soll, dass es nicht um das Stillen, sondern um die Muttermilch selbst gehe. Dass das Produkt zähle, nicht der Prozess. Der Vorteil aus unternehmerischer Sicht liegt auf der Hand: Eine Mutter kann Vollzeit arbeiten gehen und (in den Pausen, zwischen Geschäftsterminen, in der Besenkammer) ihre Milch abpumpen, mit der dann ein Kindermädchen ihr Baby füttert. Die Mutter gibt ihrem Kind vermeintlich das Beste - und steht dennoch gleichzeitig als Arbeitskraft zur Verfügung. Doppelte Belastung für die Mütter, doppelter Vorteil für die Gesellschaft, die von gesunden Kindern und produktiven Angestellten profitieren möchte.

Doch es gibt noch einen zweiten Grund, warum Muttermilch zum segensreichsten Nahrungsmittel überhaupt stilisiert wird: Das Produkt Muttermilch lässt sich vermarkten. Aus ihr kann man Käse oder Kosmetikprodukte herstellen und sie flaschenweise im Internet für 30 bis 100 Dollar pro Liter verkaufen. Das scheint all jene Mütter zu entlasten, die selbst nicht stillen können. In Wirklichkeit aber entfremdet es Kinder und Mütter voneinander, sagt Courtney Jung.

Abpumpen ist leichter mit dem Job vereinbar

Muttermilch ist nach Grünkohl und Chia-Samen das neue Superfood. Dabei geben Mediziner, mit denen Jung für ihr Buch gesprochen hat, zu, dass der gesundheitliche Nutzen des Stillens eher moderat ist. Meta-Studien, die andere Studien zu dem Thema auswerten, haben ergeben, dass es einfach nicht ausreichend gute Daten gibt, um tatsächlich zu einem verlässlichen Ergebnis über die Wirkung des Stillens auf die Gesundheit zu kommen. Trotzdem verlassen sich Politik, Ärzte und Familien auf die Aussagen, die aus den vorliegenden Daten abgeleitet wurden, und sprechen auf deren Basis ihre Empfehlungen aus.

Nicht untersucht ist vor allem, ob es nicht vielmehr der Mutter-Kind-Kontakt ist, der den - wenn auch psychologischen - Vorteil des Stillens ausmacht. Und nicht die chemische Zusammensetzung von Muttermilch an sich. Das würde dagegen sprechen, Milch tagtäglich abzupumpen und per Fläschchen zu füttern. Oder sie im Internet zu bestellen. Trotzdem, kritisiert Jung, konzentrieren sich sämtliche Kampagnen auf das Anpreisen von (abgepumpter) Muttermilch.

Womöglich, das legt Jungs Buch nahe, sitzen hier wohlmeinende Mütter einem Irrglauben auf, reiben sich umsonst auf zwischen Milchpumpe und Geschäftstermin. Womöglich nutzt die Wirtschaft hier aus, dass Mütter nur das Beste für ihre Kinder wollen. Womöglich - auf dieser Schlussnote endet Jungs Plädoyer - wäre auch in den USA die Zeit reif für eine Elternzeitregelung, wie sie alle anderen westlichen Länder längst haben.

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