Kolumne: Vor Gericht:Der Mörder, den es nie gab

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Bruno Lüdke in Berlin-Köpenick vermutlich in den 1930er-Jahren. Lüdke wurde von den Nationalsozialisten bei einem grausamen Menschenexperiment mit vergifteter Munition getötet. (Foto: Unbekannter Wanderfotograf/privat)

Bruno Lüdke galt als schlimmster Serientäter der deutschen Kriminalgeschichte. Bis herauskam, dass alles nur erfunden war.

Von Verena Mayer

Es passiert selten, dass sich Schauspieler für ihre Kunst entschuldigen. Mario Adorf tat 2021 aber genau das. Es ging um die Filmrolle, die ihn in den Fünfzigerjahren bekannt gemacht hatte. In „Nachts, wenn der Teufel kommt“ spielte Adorf einen Mann namens Bruno Lüdke, der lange als schlimmster Serientäter der deutschen Kriminalgeschichte galt. Lüdke wurden 53 Morde in ganz Deutschland zugerechnet, die meisten Opfer waren Frauen. 1943 wurde er gefasst und gestand alles.

Das Problem: Bruno Lüdke hat kein einziges Verbrechen begangen. Zwar gab es Lüdke wirklich, er wurde 1908 geboren, lebte in Berlin-Köpenick und arbeitete in der Wäscherei seiner Eltern. Aber die Mordserie war eine Erfindung der Nationalsozialisten, die die Leute auch nach 1945 bereitwillig glaubten.

Diese Geschichte hält viele Lehren bereit. Über die Mechanismen des NS-Regimes, das in Lüdke den perfekten Täter fand. Lüdke war geistig eingeschränkt und schon länger im Visier der Nationalsozialisten, die seine Zwangssterilisation anordneten und ihn in eine Anstalt einweisen wollten. Dies hätte seine Ermordung bedeutet, Lüdkes Familie konnte das gerade noch abwehren. Als 1943 in der Nachbarschaft eine tote Rentnerin gefunden wurde, geriet Lüdke sofort in Verdacht. Er verstand zwar nicht, worum es ging, ein jovialer Beamter brachte ihn im Verhör aber schließlich dazu, die Tat zu gestehen – und Dutzende weitere ungeklärte Mordfälle aus den vergangenen zwanzig Jahren dazu. Fortan wurde Lüdke von den Nationalsozialisten als „geborener Verbrecher“ vorgeführt, als Studienobjekt missbraucht und später bei einem Menschenexperiment ermordet.

Seinen Ruf als schlimmster Serienmörder bekam Lüdke aber erst in der Nachkriegszeit. Als Medien oder eben ein Filmregisseur den Stoff entdeckten, eine frühe Form von True Crime gewissermaßen. Und, Lehre Nummer 2, nicht hinterfragten, was sie da aufbereiteten. Erst in den Neunzigerjahren gab es Zweifel an der Geschichte. Da untersuchte ein niederländischer Kriminalist, der sich hobbymäßig mit historischen Verbrechen beschäftigte, die Akten und stellte fest, dass Bruno Lüdke schon aus logistischen Gründen diese Verbrechen nicht begangen haben konnte.

Irgendwann erfuhr auch Mario Adorf davon. Er war es, der sich dafür einsetzte, dass Bruno Lüdkes Reputation wiederhergestellt wird. Weil Lüdke unter anderem durch seine Darstellung als Serienmörder abgestempelt worden sei und man, Lehre Nummer 3, auch als Schauspieler Verantwortung habe. Adorf hat dann dazu beigetragen, dass in Köpenick ein Stolperstein für Bruno Lüdke verlegt wird. Und daran erinnert, wie viele behinderte Menschen Opfer der Nationalsozialisten wurden. Bei der Zeremonie waren auch Nachkommen der Familie Lüdke anwesend. Sie hatten jahrzehntelang unter der falschen Berichterstattung über Bruno Lüdke gelitten. Das war Lehre Nummer 4 aus der Geschichte: Wie sehr ein historisches Ereignis in die Gegenwart hineinragen kann.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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