Brieftaubenzucht:Der Himmel der Deutschen

Kaum ein Hobby passt zu diesem Land so wie die Zucht der Brieftaube. Doch immer weniger Menschen nehmen die mühselige Arbeit auf sich. Und das, obwohl reiche Chinesen gerade Rekordpreise von mehr als 200 000 Euro pro Brieftaube zahlen.

Von Roman Deininger

Wenn Helmut Köster vor seinem Taubenschlag sitzt, in seinem Plastikstuhl, der mal weiß war, dann sieht er den molligen Kirchturm von Garbeck und die grünen Hügel des Sauerlands. Man müsste eigentlich einen Rahmen machen um den Turm und die Hügel, denn das ist das eine Bild, das Helmut Köster immer begleitet hat, auf dem Weg von einem jungen zu einem alten Mann, seit ihm die erste Taube zugeflogen ist im Hühnerstall seiner Eltern.

Jeden Samstag in jedem Sommer hat er sich in seinen Stuhl gesetzt und gewartet, ist nervöser geworden von Minute zu Minute, hat mit dem Finger den Wind geprüft. Denn Samstag ist Flugtag. Brieftauben-Rennen gehen über Hunderte Kilometer, von einem gemeinsamen Startpunkt aus fliegen die Tauben zurück in den eigenen Schlag. Die Durchschnittsgeschwindigkeit entscheidet. Bei Köster in Garbeck hat früher gegen Mittag oft ein Züchterkamerad aus dem Nachbardorf angerufen: "Helmut, meine ist da." Dann wusste Köster: Seine musste auch bald kommen, und wenn sie das Rennen gewinnen wollte, bitte sofort. Und wenn sie nicht kam, den ganzen Nachmittag nicht, dann wuchs die Gewissheit, dass sie der Habicht geholt hatte.

"Die freut sich jetzt richtig heimzukommen."

Wer Taubenzüchten für öde hält und für piefig, der sollte sich einmal einlassen auf diesen Moment. Wenn man selbst noch nichts sieht als grauen Himmel über grünen Hügeln, und ein alter Züchter plötzlich sagt: "Da kommt sie." Wenn aus einem Punkt am Horizont eine Taube wird, wenn sie in elegantem Bogen den Kirchturm umsegelt, im Sturzflug zum Schlag hinuntersticht und vor dem Landen kräftig in die Flügel klatscht. "Da geht einem das Herz auf", sagt Helmut Köster, 77, ein Mann, der nicht viel redet und am allerwenigsten über Gefühle. "Wenn du merkst, die freut sich jetzt richtig heimzukommen."

Es gibt im Hause der Kösters zwei Wohnzimmer, in dem einen wohnen die Kösters, in dem anderen wohnen die Pokale und Urkunden, die Helmut Kösters Tauben eingeflogen haben in fast sechs Jahrzehnten. Das erste Ehrenzeichen ist von 1958. Es wird langsam eng in dem Zimmer, obwohl Frau Köster schon vor ein paar Jahren drei Kisten mit Trophäen in den Keller ausgelagert hat. "Ist ja noch genug da", sagt Helmut Köster, zu der Einsicht hat seine Frau ihm erst verhelfen müssen. Er sucht an der Wand ein Foto, die Taube, mit der er im Sommer den Ruhrgebietsflug gewonnen hat, die Tour de France der deutschen Brieftauben. Start in Niederbayern, 550 Kilometer Strecke, 21 600 Tiere. Und die Nummer eins: die Köster-Taube. Köster hat das Foto gefunden, er streicht behutsam mit den Fingerkuppen darüber wie einer echten Taube übers Gefieder. Er sagt: "Nu ja, der Vogel ist jetzt auch in Taiwan."

150 000-Euro-Taube in Düsseldorf gestohlen

Brieftaubenzüchten, das ist gefühlt eine sehr deutsche Angelegenheit. Das tun vielleicht noch die Belgier, die sogar damit angefangen haben um 1800 herum, die Niederländer, die Polen. Aber warum, bitte schön, vertickt Köster seinen Paradevogel nach Taiwan?

Kurz vor Weihnachten wurde in Düsseldorf eine Taube gestohlen, man könnte das als Zeichen einer neuen Zeit im altehrwürdigen Taubensport deuten. Der Täter schlich sich nachts auf das Grundstück eines bekannten Züchters, er wusste genau, was er suchte. Von den Hunderten Tauben in den Volieren griff er sich eine einzige, den Vogel "AS 969", sechs Jahre alt. Die Nachricht aus Düsseldorf stand dann in Zeitungen auf der ganzen Welt: "150 000-Euro-Taube gestohlen". Der Wert war geschätzt, aber Szenekenner versichern: keinesfalls zu hoch. AS 969 ist unter den Brieftauben das, was der Hengst Totilas unter den Dressurpferden ist.

Brieftaubenzüchten, das ist - für manche zumindest - nur noch gefühlt ein Hobby. Das ist ein Geschäft. Und ab und an eben auch ein schmutziges.

2013 wurde eine belgische Brieftaube für 310 000 Euro verkauft, sie trug den Namen "Bolt", nach dem Sprinter Usain Bolt, der allerdings eine lahme Ente ist im Vergleich - die besten Brieftauben erreichen 120 Kilometer pro Stunde. 2012 wurde ein Höchstpreis von 250 000 Euro für eine Turbo-Taube notiert, 2011 waren es 170 000. Helmut Köster sagt: "Für die Chinesen ist das doch alles kein Geld." Die Taube, die kürzlich aus Garbeck nach Taiwan verzogen ist, habe ihm schon auch "ein bisschen was" eingebracht. Die Kenner sagen, das bisschen dürfte fünfstellig gewesen sein.

In den vergangenen Jahren hat sich unter unausgelasteten chinesischen Millionären, aber auch beim einen oder anderen Emir die Auffassung durchgesetzt, dass Brieftauben schick sind. Und einträglich: In Deutschland gibt es zwar nur Pokale, die Frau Köster dann irgendwann in den Keller packt. Aber in Südafrika etwa findet jährlich das "Million Dollar Pigeon Race" statt, das nicht ohne Grund so heißt. Und in China wird auf Brieftauben im großen Stil gewettet. Die Nachkommen des Düsseldorfer Top-Vogels waren bei einigen dieser Rennen ganz vorn dabei. "Es geht eben nichts über gute Gene", sagt Köster. Auf die dürfte es der Dieb abgesehen haben.

Brieftaubenzüchten erfordert Ordnung

Brieftaubenzucht: Michael Mahr weiß als Archivar viel über die glorreiche Brieftauben-Historie - und erzählt gerne davon.

Michael Mahr weiß als Archivar viel über die glorreiche Brieftauben-Historie - und erzählt gerne davon.

(Foto: Dominik Asbach)

Brieftaubenzüchten riecht nach Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder, nach Kohle und Revier, nach Bergmannsiedlungen, zu deren Miethäuschen der Taubenschlag gehörte wie Küche und Bad, ein Hauch von Land mitten in der Stadt. Als noch kaum wer Auto fuhr oder gar in den Urlaub, war die Brieftaube - von der Natur großzügig bedacht mit dem Talent, von fernen, fremden Orten stets heimzufinden - der bundesrepublikanische Sehnsuchtsvogel. Ganz erklärlich ist ihr Orientierungssinn nicht, sie hält sich wohl an Sonne, Sterne und das Magnetfeld der Erde. Ein Züchterleben besteht tagtäglich aus Hingabe, Disziplin und dreckiger Arbeit, aber immer auch aus diesem Funken Magie.

Brieftaubenzüchten ist auch deshalb so deutsch, weil es Ordnung erfordert und Ordnung stiftet. Doch die alte Ordnung der Taubenfreunde wankt gerade im Wind der neuen Zeit. Da ist ja nicht nur die Globalisierung, die nun auch in die Nebenzimmer der Gesellschaft kriecht, in den Brieftaubenverein "Komm zurück" Garbeck und den Taubenschlag unterm Kirchturm. Da ist auch das Nachwuchsproblem vieler Vereine, die man sich vor fünfzig Jahren nicht hätte wegdenken können aus so einem deutschen Leben. "Die Jungen können nicht mehr mit Tieren", sagt Helmut Köster, nicht mit Tauben, nicht mit Kaninchen, nicht mit Hühnern. "Die können nur mit Computern." 110 000 Mitglieder hatte der Verband Deutscher Brieftaubenzüchter 1960, 40 000 sind es heute. 16 Züchter hatte Garbeck. Zwei sind geblieben.

So ist das nun: Es gibt immer weniger Brieftaubenzüchter in Deutschland. Aber es steckt immer mehr Geld in der Sache.

Wo Tauben Rennpferde sind

An einem stürmischen Januarsamstag zieht eine Prozession älterer Herren zur Dortmunder Westfalenhalle. Die Deutsche Brieftauben-Ausstellung, die größte Messe ihrer Art in Europa, das Hochamt der Taubenliebhaber. "Sportfreunde", so nennen sie sich untereinander. Hier muss mehr herauszufinden sein über die neue Ordnung der Taubenwelt. Im Foyer holen zwei Sportfreunde erst mal den Kamm raus und glätten das zerzauste Haar. "Der Meier-Gerd auch da?" - "Nee, Lunge." - "Und der Fritsch-Werner?" - "Niere."

Wenn man keine Ahnung hat von Brieftauben, lernt man eine Menge im Trubel der Westfallenhalle, zwischen Spezialfutter-Verkaufsständen und schier endlosen Käfigreihen. Dass Brieftauben schon lange keine Briefe mehr tragen, außer in der chinesischen Armee. Dass eine Brieftaube ein "Rennpferd" ist und die gemeine Stadttaube dagegen ein "Esel". Dass glückliche Tauben kaum gurren. Dass die Taube "Di Caprio" ein ziemlich eitler Vogel ist und "Euro" in der Käfigecke kauert, als wäre er in einer schlimmen Krise. Und vor allem lernt man: dass Brieftauben inzwischen wirklich Hochleistungssportler sind.

Für sie gibt es Vitamine, Jod und Eisen, Schwarzkümmel- und Knoblauchöl, "beflügelnde" Badesalze - und bei manchen Rennen Dopingkontrollen. Als Helmut Köster ein Bub war, hatte man Taubenuhren, wuchtige Holzkästen, die stanzten die Ankunftszeit auf einen Papierstreifen, den man dann im Vereinsheim abgeben musste. Eine Woche wartete man auf die Siegerliste. Heute hat man digitale Zeitmesser und die Tiere haben einen Chip am Fuß. Die Ergebnisse stehen sofort online, genau wie minutiös berechnete Trainingspläne.

Brieftaubenzucht: Diesen Weg legte die Brieftaube von Helmut Köster zurück.

Diesen Weg legte die Brieftaube von Helmut Köster zurück.

Selten hat man Männer so begeistert shoppen sehen

In der Westfalenhalle erkennt man schnell die vielen alten Züchter, die nicht ganz ankommen wollen in der neuen Zeit. Die ihrem Enkel ein T-Shirt schenken mit dem Aufdruck "Mein Opa ist Brieftaubenzüchter" und sich bei der Benefizauktion die Taube 02884-14-757 leisten, 500 Euro, ein Schnaps inklusive, zu trinken bei Abholung. Selten hat man Männer so begeistert shoppen gesehen, in kleinen Pappboxen schleppen sie ihre neuen Schützlinge nach Hause.

Die Erfolgszüchter der nächsten, auch nicht mehr ganz jungen Generation sind keine Pensionäre aus dem Sauerland wie Helmut Köster. Sie sind Ärzte, Anwälte oder Softwareunternehmer wie Hans-Paul Eßer, der Düsseldorfer, dem AS 969 gestohlen wurde. Eßer, Anfang fünfzig, Lederjacke und Designerschal, ist nicht bange um den Taubensport in Deutschland: "Geld allein wird nie reichen, man braucht das Gefühl für die Tiere." Man müsse sich doch nur umschauen hier: überall Züchter, die das Gefieder der Tauben abtasten, ihren Atem hören, ihre Augen prüfen, auf der Suche nach der besonderen Gabe. Eßer sagt: "Wir schauen alle in den gleichen Himmel.

Erdseitig, in der Westfalenhalle, begegnet man kaum Chinesen mit gezückten Brieftaschen, die halten sich fern, weil der gewiefte deutsche Züchter im Angesicht eines Asiaten reflexartig den Preis verzehnfacht. "Das läuft diskret über Mittelsmänner", sagt einer, der sich auskennt. Eine Handvoll Züchter habe der Tauben-Export wirklich zu Millionären gemacht. Und ein guter Vermittler, der sich auch um nervige Zolldetails kümmert, könne selbst locker 100 000 Euro im Jahr verdienen.

Am Historienstand des Verbands erzählt Michael Mahr, 63, Heizungsunternehmer aus Aachen, mit tiefer Stimme die glorreiche Geschichte der deutschen Brieftaube - als Kriegsheld, als Börsenbote und Bergmannsfreund. An diesem Punkt, so um 1970, würde Mahr gern aufhören mit dem Erzählen. Aber die Geschichte ist leider noch nicht zu Ende. Im Jahr 2015 steht selbst im Ruhrgebiet in den Mietverträgen oft: Kleintierhaltung verboten. Und wenn sie erlaubt ist, beschweren sich die Nachbarn über Lärm und Gestank.

"Deine Tauben und du"

Früher haben sich Menschen verbinden lassen von den Tauben. Heute lassen sie sich trennen.

Es gibt einen Jugendbereich auf der Taubenschau und eine Hüpfburg mit einem Riesenaffen in der Mitte. Der Verband hat ein hübsches Kinderbuch herausgebracht, "Deine Tauben und Du". Ein Förderverein erstattet jungen Besuchern den Messeeintritt. Reicht das? Was muss passieren, dass der Deutsche von heute die Taube wiederentdeckt? Michael Mahr grübelt ungeniert einen langen Augenblick. Dann sagt er: "Eine schwere Energiekrise vielleicht." Aber die wolle er der Menschheit dann doch nicht wünschen.

Helmut Köster ist diesmal gar nicht nach Dortmund gefahren, er ist lieber in Garbeck geblieben bei seiner Frau und ihrer Preiselbeertorte. Es ging ihm nicht so gut am Morgen, die Bandscheibe, die Hüfte. "Es ist alles nicht mehr wie früher", sagt er, das Taubenfangen im Schlag, das sei fast Sport, und Sport, das sei für ihn vorbei. "Dass die Zeit nicht stehen bleibt, das muss ja so sein." Köster hat einen Sohn und eine Tochter; einen Nachfolger für die Tauben hat er nicht. "Schade", sagt er. "Aber was soll man machen?" Wenn ihm die Schufterei eines Tages zu mühselig werde, wohl doch: die Tauben verkaufen. An "jemand Jungen von hier", das wäre ihm am liebsten, oder halt doch an die Chinesen. "Möchte noch jemand Torte?", ruft Frau Köster in die Stille über dem Kaffeetisch.

Draußen ist es dunkel geworden und kalt, und Helmut Köster geht noch einmal nach den Tauben sehen.

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