Süddeutsche Zeitung

Briefmarkensammeln:Ein gigantisches Erbe, das niemand antreten will

Wer früher Briefmarken sammelte, holte sich die weite Welt nach Hause. Aber wer interessiert sich heute noch für die Feinheiten der Philatelie?

Von Philipp Bovermann

"Es gibt Jäger und es gibt Sammler", sagt Dirk Schulz. Er und seine Kameraden sind Sammler. "Sammler sind Idealisten." Die Männer mit den runden Bäuchen und den gebügelten Hemden sammeln Briefmarken - "Postwertzeichen", sagen sie, vielleicht weil es offizieller klingt, auf eine muckelige Art bürokratisch, die man jungen Leuten heute offenbar nur noch schwer vermitteln kann.

Schulz hat nur teilweise graues Haar, er ist der Jüngste von ihnen und einer der jüngeren Teilnehmer des "Tags der Jungen Briefmarkensammler", der an diesem Wochenende in der Katharinenkirche in Salzwedel stattfindet - auf Einladung der "Deutschen Philatelistenjugend", dem Jugendverband der organisierten Briefmarkensammler.

Die Marken im Planschbecken sind für die Kinder gedacht, aber es kommen gar keine

Im Seitenschiff der Katharinenkirche ist eine Briefmarken-Tauschbörse aufgebaut. Während der Pfarrer den Sonntagsgottesdienst hält, wühlen sich ein paar Männer in Maulwurfshaltung beharrlich durch die Kisten. Auf der anderen Seite des langen Tisches, in der Nähe des Eingangs, steht ein Planschbecken voller Briefmarken. Über Umwege sind darin die Inhalte von einigen der unzähligen Sammlungen gelandet, die irgendjemand vom Opa geerbt hat und sie, nach dem erfolglosen Versuch sie zu verkaufen, den ortsansässigen "Jungen Briefmarkenfreunden Pretzier" geschenkt hat. Der Verein trifft sich in der Grundschule Pretzier, einem Dorf in der Nähe von Salzwedel. Er ist der letzte seiner Art in Sachsen-Anhalt. Einer der wenigen verbliebenen in Deutschland.

Die abertausend Briefmarken in dem Planschbecken sind für die interessierten Kinder gedacht, die aber gar nicht kommen. Sie sollen sich mit einer Angel die Marken rausfischen, die ihnen gefallen. Irgendwann, so zumindest die Theorie, soll in ihnen der Wunsch erwachen, sich auf die Suche zu begeben - nach anderen Marken mit einem bestimmten Motiv oder aus einer bestimmten Epoche, wenn sie schon einige davon haben und irgendwann alle haben wollen. Der Wunsch nach Vollständigkeit in Zeiten des Mangels. Aber die Zeiten des Mangels sind vorbei. Das Planschbecken quillt über von einem gigantischen Erbe, das keiner antreten will. Nun ja, fast keiner. Sechs Mitglieder haben die Jungen Briefmarkenfreunden Pretzier ja noch.

Eine davon ist Saskia Buczkowski, die an diesem Sonntag ihren 21. Geburtstag feiert. Sie sitzt am Planschbecken, guckt durch ihre Rundbrille und wartet auf Kinder. Angefangen habe sie mit Tieren, erklärt sie einer älteren Besucherin. Sie fand Tiere toll, also sammelte sie Briefmarken mit Tiermotiven. Heute sammelt sie Frankreich. Fernweh. Ihr Vereinskollege Benjamin, ein aufgeweckter Junge, zehn Jahre alt, sammelt Marken mit Schachfiguren drauf. Weil er Schach liebt. Und weil auch sein Vater Schach sammelt.

Früher waren Briefmarkensammler häufiger das, was Dirk Schulz "Jäger" nennt: Sammler, denen es um das Geld geht. Die Wochenzeitung Zeit wusste 1965 von einem Markt zu berichten, auf dem dreistellige Millionenbeträge verschoben werden, allein in Deutschland. Die "Aktien des kleinen Mannes" nannte man Briefmarken damals. Heute erzählt einem der Händler in der Katharinenkirche vom Händlersterben. Er meint das buchstäblich. Es sei unglaublich viel auf dem Markt, auch seltene Stücke. Ein älterer Herr fragt ihn nach einer bestimmten Marke, die hat er auch da, der Kunde will sie aber gestempelt haben. Dann ist es der falsche Stempel - kein Interesse. Der Händler seufzt.

Auf dem Grünstreifen vor der Kirche liegen die Bratwürste auf dem Grill. Wespen summen über Kuchenplatten, finden niemanden zum Stechen. Aber dann kommt doch noch ein bisschen Schwung in die Bude. Eine gelbe Postkutsche fährt vor, der Kutscher trötet ins Posthorn, ein paar Herrschaften lassen die Kaffeetassen auf den Bierbänken stehen, steigen zu und fahren eine Runde über die von lauschigen Fachwerkhäusern umstellten Kopfsteinstraßen Salzwedels. Nur die Jugend hängt weiter zu Hause vor ihren Smartphones.

Hin und wieder überpinselte der DDR-Zoll Briefmarken, wenn er westliche Propaganda vermutete

Ihn mache das schon ein bisschen traurig, sagt Roland Henschke, der im roten Polohemd neben dem Grill steht. In seiner Klasse habe damals fast jeder Briefmarken gesammelt. Die Nachbarin bekam häufig Post aus Österreich. Die ließ er sich von ihr geben, löste die Marken ab und tauschte sie mit seinen Kameraden. Mit seinen österreichischen Marken konnte er punkten, denn die aus dem Westen waren beliebt. "Das war ja für uns wegen der Mauer unerreichbar. Aber über die Marken ein Stückchen näher."

Man hört ähnliche Geschichten auch von anderen alten Sammlern. In ihrer Kindheit und Jugend kündeten Briefmarken von fernen Ländern, manchmal ganz exotischen, die sie nur dem Namen nach kannten. Die fremden Währungen, die manchmal rätselhaften Motive luden zum Träumen ein; die Poststempel beglaubigten amtlich, dass es diese Welt außerhalb des eigenen Kosmos wirklich gab. Das machte auch für viele Sammler im Westen den Reiz dieses Hobbys aus. Aber man darf vermuten, dass es für die in der DDR ganz besonders galt.

Hin und wieder überpinselte der DDR-Zoll Briefmarken mit Farbe, weil die Motive aus seiner Sicht westliche Propaganda transportierten. Andere löste er ab. Briefmarken, die sich Sammler in Umschlägen über Ländergrenzen hin und her schickten, betrachteten die DDR-Behörden als Devisen - die durfte man nicht einfach in beliebigem Umfang ins Land bringen, sonst bekam man Besuch. Und auch die "roten Marken" aus dem Ostblock musste man erst einmal kriegen. Bestimmte "Sperrwerte" bekam man nur gegen Vorlage des Ausweises, genau ein Mal. Der Handel mit den Miniaturkunstwerken zwischen Ost und West, die vielen Brieffreundschaften, die Sammler pflegten, all das war dem Regime offensichtlich nicht geheuer.

Nach der Wende kam man plötzlich an alles ran, erzählt Henschke traurig. Auf Flohmärkten lagen die zuvor unerreichbaren Marken einfach so zwischen irgendwelchem Kram. Händler schmissen einem komplette Sammlungen hinterher. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs fiel der limitierende Faktor weg. Sammeln lebt aber von der Beschränktheit, von Grenzen und dem Versuch, sie zu überwinden. Doch die Welt ist kleiner geworden. Digitale Post kennt keine Grenzen mehr - und sie braucht auch keine Briefmarken. Wenn nun die alten Männer auf ihren entwerteten Schätzen sitzen, bekommen diese einen neuen Charakter: Als Dokumente einer verlorenen Zeit, vergangener Sehnsüchte. "Die Marken stellen ja auch eine Geschichte dar. Eine Identität", sagt Henschke.

Man kann nur ahnen, wie viele Ost-Sammlungen noch in Abstellkammern liegen

Carmen Kauffmann, die Leiterin und Seele des Pretzier Vereins, eine freundliche Frau um die fünfzig, hat früher "DDR und BDR gestempelt" gesammelt. Heute sammelt sie "heimatbezogen". Ein älterer Herr aus Magdeburg sammelt nur Magdeburger Poststempel. Dirk Schulz sammelt sowjetische Besatzungszone. Ein ehemaliger Zentralvorstand des DDR-Philatelistenbundes, heute Audi-Quattro-Fahrer, sammelt englische Kolonien. Ein vergleichsweise junger Mann in einem altmodischen Pullover sagt, er habe gar kein Sammelgebiet, er helfe hier nur bei der Veranstaltung mit. Aber dann erzählt er, dass er Fernsehtechniker sei und irgendwann angefangen habe, alte DDR-Geräte zu sammeln. Zum Beweis zeigt er eingescannte Zeitungsartikel. Sie sind mit Fotos bebildert, auf denen Wände voller alter Radios und Röhrenfernseher zu sehen sind. "Er wünscht sich, dass sein Sohn Sascha irgendwann in seine Fußstapfen tritt", steht unter einem der Bilder.

Während man sie betrachtet, dämmert einem, wie viele Ost-Sammlungen wahrscheinlich noch in irgendwelchen Schränken und Abstellkammern darauf warten, dass jemand sie sichtet, ihren Wert schätzt - um dann zu sagen: Ab ins Planschbecken damit! Und dann? "Aufarbeiten" nennen es Philatelisten, wenn sie einen Briefmarkenbestand durchkämmen, um zu gucken, was sich für ihre Exponate eignen könnte. Was in eine neue Ordnung überführt und dadurch gerettet wird.

Der Junge mit dem Flaumbart sammelt "Deutsches Reich"; hat er vom Opa geerbt

9,5 Millionen

Dollar wurden 2014 für eine Briefmarke bezahlt, das ist Rekord. Es handelte sich um die "British Guiana 1c magenta", ein Einzelstück. Das zeigt, dass es für wirklich wertvolle Marken einen Markt gibt, trotz des abnehmenden Interesses. Gedruckt wurde die 1c angeblich 1856 in der damaligen britischen Kolonie Guyana. Ein zwölfjähriger schottischer Junge soll sie später auf einem Brief seines Onkels entdeckt haben. Abgebildet ist ein schwarzes Schiff, umgeben von einer Inschrift: "Damus Petimus Que Vicissim", auf Deutsch: "Wir geben und nehmen im Wechsel".

"Was wir in eurem Alter gemacht haben, um an die Marken ranzukommen", empört sich der Grillmeister, eine Wurst wendend. "Wenn damals ein alter Mann seine Bücher aufgeschlagen hat - boah, da haste aber gestaunt!" Sein Schwager habe eine Marke für 1200 Ostmark gekauft, wirft ein anderer ein: "Wie bekloppt muss man sein!" Einer der jungen Philatelisten, ein schmaler Sechzehnjähriger in einem schwarzen Pullover, zuckt mit den Schultern, sieht sich gehetzt um. Für gewisse Marken könne man schon Geld ausgeben, nuschelt er. Schnappt sich seine Wurst und verschwindet.

Der Junge heißt Mika Hein, hat einen leichten Flaumbart über der Oberlippe und ein hübsches Gesicht. Er spricht sehr leise, wie an sich selbst gerichtet - man glaubt, sich verhört zu haben: "Deutsches Reich", sammele er. Die Sammlung habe er größtenteils von seinem Opa geerbt, einen Teil von seinem Vater. Jetzt führe er sie fort. Er hat sie sogar mitgebracht, sie füllt eine ganze Sporttasche. Blaue und braune Alben mit Ledereinband, in manchen sind Briefmarken abgeheftet, in anderen vollständige Briefe. Schöne, altmodisch geschwungene Handschrift, gestempelt mit dem Hakenkreuz. Sieht so heute das verheißungsvolle Land aus, von dem die Briefmarken künden, so wie es früher der Westen war?

Nein, er sei kein Fan der Nazis, sagt Mika. Er beschäftige sich mit der Zeit aus philatelistischem Interesse, "um Sachen herauszufinden, wie es damals war". Die Briefe interessierten ihn besonders. Durch sie erfahre er manchmal direkt etwas über die Menschen von damals. Zum Beispiel über die Mutter, die auf einer Postkarte schreibt, wie sie sich um ihren Mann sorgt, seit er an der Front ist, wie sie morgens ihre Kinder in die Schule bringt. Ob er für sich eine Beziehung zu den Menschen aufgebaut habe, von denen er mehrere Postsendungen gelesen hat? "Brieflich halt."

Dann schweigt er, guckt traurig und rastlos, wie jemand, der die Welt besser versteht, wenn er sie unter der Prüflupe betrachtet. Um sie dann irgendwo abzuheften, wo sie ihren Platz hat. Er wirkt mehr wie ein Sammler als ein Jäger. Wie jemand, der in der Geschichte wühlt, wenn er in Kisten voller Briefmarken wühlt. Wie ein wahrer Philatelist. Wahrscheinlich bräuchte es mehr junge Menschen wie ihn, die für Ordnung sorgen - zwischen gestern und heute. Damit da nichts durcheinandergerät.

Die Füllmenge des Planschbeckens wird an diesem Wochenende weiter zunehmen. Eine Frau ist zur Katharinenkirche gekommen, im Gepäck die Briefmarkensammlung ihres verstorbenen Mannes. Das Ergebnis der Schätzung: "Kein kaufmännischer Wert". Aber der spielt für echte Sammler ja keine Rolle.

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SZ vom 21.09.2019/jael
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