Braunkohleabbau:Herr Pisters muss sein Dorf verlassen

Braunkohleabbau: Hans-Josef Pisters vor seinem Haus. Im Hintergrund eine Birke, er brachte sie 1964 von der Hochzeitsreise mit, als kleinen Setzling. Sie fällt den Baggern zum Opfer, so wie ganz Keyenberg.

Hans-Josef Pisters vor seinem Haus. Im Hintergrund eine Birke, er brachte sie 1964 von der Hochzeitsreise mit, als kleinen Setzling. Sie fällt den Baggern zum Opfer, so wie ganz Keyenberg.

(Foto: Marcus Simaitis)

Im Rheinland werden noch immer ganze Orte abgebaggert, wegen der Braunkohle. Jetzt trifft es Keyenberg. Ein letzter Rundgang mit einem, der hier sein ganzes Leben verbracht hat.

Reportage von Benedikt Peters

Nachts, wenn er im Bett liegt und der Wind aus Osten kommt, kann er ihn hören. Knack-knack-knack-knack-knack-knack-knack. Er hört, wie sich das Schaufelrad des Baggers dreht. Wie es sich in die Erde gräbt. Wie es mit jeder Umdrehung 118,8 Kubikmeter Sand und Kies in die Höhe reißt, so viel wie ein kleines Haus. Mit jeder Umdrehung wächst das Loch ein Stückchen, rückt näher heran an das Haus von Hans-Josef Pisters in Keyenberg.

Er steht jetzt im Flur, an den Wänden hängen Zeugnisse aus früheren Tagen: er als Kleinkind, in Hemdchen und Strickpullover. Die Söhne mit Bartflaum. Und eine Ehrenurkunde: "60 Jahre Mitgliedschaft im Kirchenchor Cäcilia Keyenberg". Auf dem Boden stapeln sich Umzugskartons, gepackte Sporttaschen, Plastiktüten. Ein paar Wochen noch, dann wird er dieses Haus für immer verlassen. "Dat tut schon weh."

Pisters trägt das weiße Haar streng zurückgekämmt, seine Haut ist mit den Jahren faltig geworden. Er kann stundenlang erzählen von den alten Zeiten in diesem Dorf im äußersten Westen Deutschlands. Von den Schützenfesten um die Heilig-Kreuz-Kirche. Davon, "wie wir damals jeknutscht haben in den Gässchen." Aber er kann auch ärgerlich werden, immer dann, wenn es darum geht, dass er bald weg muss. "Dat is doch Wahnsinn, oder?", fragt Pisters. Die wichtigen Wörter betont er, indem er sie dehnt. Waaaahnsinn.

Unter Keyenberg liegt Braunkohle, so wie unter etlichen Dörfern hier im Rheinischen Revier. Das Energieunternehmen RWE baut sie ab und verstromt sie in nahe gelegenen Kraftwerken. Für viele Menschen in der Region bedeutet der Braunkohleabbau Wohlstand. 13 600 Menschen arbeiten für RWE Power, die Konzerntochter, die sich um das deutsche Energiegeschäft kümmert. Für Menschen wie Hans-Josef Pisters bedeutet der Braunkohleabbau, dass sie ihre Heimat verlieren.

Sein Leben lang sah Pisters den Tagebau auf sich zukommen

Die Dörfer, die dem Abbau im Weg sind, müssen weichen. Erst werden die Menschen umgesiedelt, dann werden ihre Häuser, die Dorfläden und die Kirchen abgerissen. Und dann kommen die Bagger. Einer der Tagebaue, Garzweiler II, reicht mittlerweile bis kurz vor die Dorfgrenze von Keyenberg.

Sein ganzes Leben lang sah Pisters den Tagebau auf sich zukommen. Er ist 75 Jahre alt, er lebt seit 75 Jahren im Dorf. Er ist hier geboren. Nicht im Krankenhaus in der Nähe, sondern hier, ein paar Schritte weiter, in seinem Elternhaus. Früher waren die verlassenen Dörfer, in die später die Bagger fuhren, für Pisters nur Meldungen in den Zeitungen. Weit entfernte Tragödien. In den Siebzigerjahren dann wurde der Heimatort seiner Frau abgebaggert, Königshoven, gut 15 Kilometer entfernt von Keyenberg. Und der Tagebau fraß sich immer weiter in die Landschaft. 1995 beschloss dann die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, dass auch Keyenberg dran ist. Das Recht auf Energieversorgung wiegt stärker als das Recht auf Heimat, urteilte das Bundesverfassungsgericht. Das Gesetz dazu stammt von 1937.

Bis vor ein paar Monaten haben sie hier trotzdem gehofft, es würde vielleicht doch noch anders kommen. 2015 beschloss die Bundesregierung den "Teilausstieg" aus der Braunkohle, einige Kraftwerke werden schon in wenigen Jahren stillgelegt. Die Grünen stellten Pläne vor, nach denen schon bald ganz auf Braunkohle verzichtet werden kann. Doch für die Keyenberger änderte sich nichts. Ihr Dorf wird abgebaggert, auch die nahe gelegenen Orte Kuckum, Berverath, Ober- und Unterwestrich sind in den nächsten Jahren noch dran. Möglicherweise sind es die letzten Dörfer in Deutschland, die der Braunkohle zum Opfer fallen.

Wann bleibt ein Dorf ein Dorf?

Am 1. Dezember 2016 begann in Keyenberg die sogenannte "Umsiedlungsphase". Offiziell haben die Bewohner sieben Jahre Zeit, das Dorf zu verlassen. Viele aber gehen jetzt schon, auch Hans-Josef Pisters und seine Frau Anita. Sie wollen nicht dabei zusehen, wie sich das Dorf langsam leert. Die ersten Häuser sind verlassen, man sieht es an den kaputten Fensterscheiben und den tagsüber zugezogenen Vorhängen. "Gillraths Brotkorb", einer der zwei Bäcker, hat im Dezember zugemacht. Und die Kreissparkasse ist auch schon geschlossen. Jetzt gibt es nur noch einen Geldautomaten.

An einem der Häuser, aus dem die Bewohner schon ausgezogen sind, hängt inzwischen ein Schild: "RWE Power AG. Liegenschaften und Umsiedlungen. Außenstelle Keyenberg." Der Energiekonzern hat hier ein Büro eingerichtet. Hinter der weißen Fassade verhandeln die Mitarbeiter mit den Bewohnern über die Entschädigung, die sie für ihre alten Häuser bekommen. Wer möchte, der kann von dem Geld ein Grundstück auf dem neuen Gemeindegebiet kaufen, einem flachen Stück Land sieben Kilometer weiter. Im Moment gibt es dort noch nichts außer Sandhügeln und Rohren, die in der Gegend herumliegen. In den nächsten Jahren aber soll hier ein Ort aus dem Boden gestampft werden.

Was wird das neue Keyenberg mit dem alten noch zu tun haben? Immerhin: Die Straßennamen sollen erhalten bleiben, auch im neuen Ort soll es die Borschemicher Straße geben, den Postweg und Zur alten Niers, die Straße, die nach dem Fluss benannt ist, der hier in der Gegend entspringt. Sie wollen die Ortskreuze mitnehmen, die die Einfahrtsstraßen nach Keyenberg markieren. Sie wollen sogar die Toten umbetten. Aber die Frage, die viele ältere Bewohner hier umtreibt, ist längst nicht beantwortet: Wann bleibt ein Dorf ein Dorf?

Er hat ein Buch über die Kirche geschrieben. Damit etwas bleibt

Pisters' Stimme hallt jetzt nach. Er steht im Vorraum von Heilig Kreuz, der Dorfkirche. Er kennt hier jeden Gegenstand, viele Dinge liebt er. Das Kirchenfenster, das die Auferstehung Christi zeigt. Den Predigtstuhl aus dunklem Eichenholz mit den zwölf Aposteln. "Sagenhaftes Schnitzwerk", sagt er. Und den Hochaltar aus Gold, sein Lieblingsstück. Pisters hat ein Buch über die Kirche und ihre 1300-jährige Geschichte geschrieben, 210 Seiten dick. Er hat ja die Zeit, seit zehn Jahren ist der frühere Verwaltungschef in Rente. Geld hat er für das Buch nicht genommen. Er hat es gern getan, sagt er. "Damit etwas bleibt."

In Keyenberg (neu) soll es keine Kirche mehr geben, nur eine kleine Kapelle. Für viele der Gegenstände wird in der Kapelle kein Platz mehr sein. Sie sollen beim Bistum eingelagert oder gleich verkauft werden, zum Beispiel nach Polen, wo die Gottesdienste noch voll sind. "Wenn ich daran denke, bekomme ich das kalte Grausen", sagt Pisters. Er ist in Heilig Kreuz zur Kommunion gegangen, war hier Messdiener, feierte Silber- und Goldhochzeit. Nur die Hochzeit selbst fand in der Kirche in Königshoven statt, dem damaligen Wohnort seiner Frau Anita, der inzwischen auch schon abgebaggert wurde.

Das Schlimmste ist für Pisters gar nicht, dass er umziehen muss. Sondern dass er nie wieder zurückkommen kann, nicht mal als Besucher. "In ein paar Jahren ist das hier alles Loch", sagt er. Wenn die Kohle abgebaut ist, soll nach den Plänen von RWE das Baggerloch mit Wasser aufgefüllt werden. Wo Keyenberg jetzt noch steht, ist dann ein See.

Am Abend sitzen sie in der Kneipe. Keyenberger Hof, Tische aus dunklem Holz, grüne Polster, Bitburger Pils aus 0,2-Liter-Gläsern. "Jetzt lass mal von was anderem reden", sagt einer. Okay, die Borussia, das nächste Spiel am Samstag, Gladbach gegen Darmstadt. "Ich hoff', die gewinnen endlich mal wieder", sagt der andere. Kurzes Schweigen. "Hast du schon gehört?", sagt der Erste. "Bernd und Wilma haben sich schon Fliesen ausgesucht. Die ziehen auch bald weg." Das sei immer so, sagt der Wirt. "Die Leute hier versuchen, über was anderes zu reden. Aber dann geht es doch wieder nur um die Umsiedlung."

Jahrelanger Kampf gegen die Umsiedlung

Der Wirt heißt Bert Hansen und hat Hände, die so groß sind, dass das Pilsglas fast darin verschwindet. Sein Keyenberger Hof liegt in der Borschemicher Straße, gleich hinter dem Ortseingang, aber für viele Bewohner ist er trotzdem der Mittelpunkt von Keyenberg. Hier treffen sich alle: die Mitglieder der Sankt-Sebastianus-Schützenbruderschaft, die Marinegruppe "Seebären" und die "Alten Herren" mit ihren schwarzen Zylindern und weißen Federn daran. Die Freiwillige Feuerwehr und die Jungs vom TuS, dessen größte Erfolge an die Wand genagelt sind: Aufstieg in die Kreisliga A 1992 / 1993. Aufstieg in die Kreisliga B 2010 / 2011. Auch die Leute vom Karnevalsverein sind manchmal hier, sie nennen sich "Die Grubenrand-Piraten". Humor haben sie ja.

Auf den zwei Kegelbahnen hinten rollen gerade die Kugeln, zwei Frauenklubs sind da. Bald werden sie sich eine neue Kegelbahn suchen müssen. In ein, zwei Jahren, sagt der Wirt Hansen, will er zumachen. Das heißt, von Wollen kann eigentlich keine Rede sein. Aber er wird wohl müssen, die Leute fangen ja jetzt schon an wegzuziehen. Dann wird alles abgerissen, auch die Kegelbahnen, die er selbst mit seinem Vater gezimmert hat.

In Keyenberg (neu) wird Hansen keine Kneipe mehr aufmachen, zu teuer. Die Preise für Grundstücke und Baustoffe sind gestiegen, von RWE aber bekommt er wohl nur das für seine alte Kneipe, was sie jetzt noch wert ist. Das Haus ist fast ein Jahrhundert alt. Und ein Kredit? "Ich bin Mitte 50. Zu alt für so was." Vielleicht macht er einen kleinen Catering-Service. "Aber nix großes mehr, mit Gastraum und so." Als Ersatz wollen die Keyenberger im neuen Pfarrheim eine Zapfanlage aufstellen. Aber ob die "Seebären" und alle anderen dann auch kommen, das wissen sie nicht.

Sie wissen ja auch noch nicht, wie viele Keyenberger überhaupt mitgehen an den neuen Standort. RWE verweist gern auf Otzenrath, einen Ort in der Nähe, der bereits abgebaggert wurde. "80 Prozent Umsiedlungsrate". Und nicht so gern auf andere Dörfer, bei denen nur 50 Prozent mitzogen. Bleibt ein Dorf ein Dorf, wenn die Hälfte der Bewohner plötzlich woanders wohnt?

Pisters wird nicht mitziehen nach Keyenberg (neu). Er schafft es einfach nicht

Hans-Josef Pisters zum Beispiel wird nicht mitgehen. Er hätte es fast getan, er hatte sich sogar schon ein Grundstück am Umsiedlungsort ausgesucht. Aber dann hat er mit seiner Frau entschieden, dass es einfach zu viel ist. Seine Frau ist auch schon über 70, noch mal ein Haus zu bauen und ein paar Jahre im Dreck zu leben, das schaffen sie nicht. "Vielleicht sind es ja unsere letzten Jahre", sagt Pisters.

Viele Ältere machen es ähnlich. Sie nehmen sich eine Wohnung in Erkelenz, der Stadt in der Nähe, oder ziehen ganz woandershin, zu Verwandten zum Beispiel. Pisters will trotzdem nah dran bleiben und auch in Keyenberg (neu) zu allen Veranstaltungen kommen. Er kann nicht anders, sagt er. Er ist nicht nur seit 60 Jahren im Kirchenchor Cäcilia, er sitzt auch im Kirchenvorstand von Heilig Kreuz. War 40 Jahre lang Geschäftsführer der Bruderschaft und ist noch immer passives Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr.

Die andere Frage ist, ob diejenigen, die mitziehen, sich auch noch verstehen werden. Vor dem RWE-Büro hängt ein Lageplan, der zeigt, dass das nicht einfach wird. Der Lageplan zeigt alle Grundstücke in Keyenberg (neu). Auf den besseren Grundstücken, denen mit Südlage zum Beispiel oder denen im Zentrum, stehen oft mehrere Namen. Wenn sich mehrere Keyenberger für ein Grundstück interessieren, sollen sie sich in Schlichtergesprächen einigen. In anderen Dörfern hat das die Gemeinschaft zerrissen, hört man.

Von der NRW-Landesregierung fühlen sich die Keyenberger im Stich gelassen

Die Tür des RWE-Büros öffnet sich, heraus kommt eine junge Frau mit Hornbrille und Burberry-Schal. "Ach, die Frau Schaffarczyk!", ruft Hans-Josef Pisters. "Wie geht es Ihnen denn?" Die beiden lächeln sich an und halten ein kurzes Schwätzchen, zum Abschied drückt Pisters Frau Schaffarczyk herzlich die Hände. "Den Mitarbeitern von RWE mache ich keinen Vorwurf", sagt er später, "die machen nur ihren Job. "Die Landesregierung ist schuld. Die haben uns im Stich gelassen."

Solche Sätze hört man oft im Dorf. Ein NRW-Ministerpräsident zum Beispiel sei nie hier gewesen, sagt einer, der im Keyenberger Hof an der Theke steht. "Nicht der Rau, nicht der Clement, nicht der Rüttgers. Und die Kraft schon gar nicht." Die SPD ist noch immer die Braunkohle-Partei, und NRW ist ein Braunkohle-Land.

Sie haben gekämpft hier in Keyenberg, sie haben Fackelzüge veranstaltet, sie haben den Bürgermeister für eine Rede ins Europaparlament geschickt. Sie haben sogar Grün gewählt, hier, am schwarzen Niederrhein. Genutzt aber hat es alles nichts. Im Mai ist wieder Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, aber ändern wird sich für sie wohl nichts mehr. "Der Kampf ist verloren." So formuliert es Pisters.

Draußen vor dem Haus, das er selbst gebaut hat und das er bald verlassen muss, steht eine Birke. Der Stamm ist dick und mit Efeu überwachsen, er überragt das Haus um mehrere Meter. Er hat sie ausgegraben, als kleinen Setzling, 1964 im Spessart, auf Hochzeitsreise. Dann hat er sie vor dem Haus eingepflanzt, als Andenken an die schöne Zeit. RWE hat Pisters auch für die Birke eine Entschädigung angeboten. Für Laubbäume zahlen sie 449 Euro.

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