Süddeutsche Zeitung

BGH-Entscheidung zu Heimkosten:Elend des Unterhaltsrechts

Lesezeit: 4 min

Es überfordert die mittlere Generation, wenn sie nicht nur die Erziehungs- und Ausbildungskosten für die Kinder, sondern auch noch die Pflegekosten für die Eltern tragen soll. Ein finanzieller Rückgriff des Staates stärkt nicht die Familie, er schwächt sie. Plädoyer für die grundlegende Reform des Verwandtenunterhalts.

Ein Kommentar von Heribert Prantl

Im nahen Zusammenleben der Menschen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ungeheuer viel verändert. Die Geschichte der Familie war und ist die Geschichte ihrer steten Verkleinerung - von der Großfamilie zur Klein- und Kleinstfamilie hin zu deren Auflösung in Einzelteile, in Singles und Singles plus X. Dementsprechend hat das Familien- und Eherecht von heute mit dem von gestern und vorgestern kaum noch etwas zu tun.

Das Familienrecht von 2014 ist ein ganz anderes Recht als das von 1954. Nur an einer Vorschrift ist der gesellschaftliche Wandel fast spurlos vorbeigegangen - an der Vorschrift des Paragrafen 1601 BGB. Dort steht seit ewigen Zeiten, dass "Verwandte in gerader Linie" verpflichtet sind, "einander Unterhalt zu leisten": die Eltern den Kindern, die Kinder den Eltern, die Großeltern den Enkeln, die Enkel den Großeltern.

Man könnte den Eindruck haben, diese Unterhaltspflicht sei letztendlich das, was Familie und Verwandtschaft ausmacht und im Innersten zusammenhält. In auf- und in absteigender Linie muss notfalls jeder für jeden zahlen. Das war so, das ist so, das stellt kaum jemand in Frage.

Jedenfalls nicht der Gesetzgeber, und auch die Gerichte tun das nicht. Und so stellt auch das jüngste Urteil des Bundesgerichtshofs die Unterhaltspflicht des erwachsenen Sohns gegenüber dem Vater auch nicht ein bisschen in Frage. Diese Unterhaltspflicht gilt dem Bundesgerichtshof als selbstverständlich. Es prüft lediglich, ob diese Unterhaltsverpflichtung ausnahmsweise entfällt, weil sich (wie das der Paragraf 1611 Absatz 1 BGB formuliert) der Vater gegenüber dem Sohn "einer schweren Verfehlung schuldig gemacht" hat. Der Bundesgerichtshof verneint das; es mag so gewesen sein; es handelt sich womöglich um einen der vielen Fälle wachsenden Entfremdung zwischen Eltern und Kind, die sich im Laufe der Zeit zur völligen Beziehungslosigkeit gesteigert hat.

Die überforderte Sandwich-Generation

Hat sich ein Vater einer schweren Verfehlung schuldig gemacht? Das kann man im Einzelfall so oder so beantworten. Das ist aber nicht der Kern des Problems. Der Kern des Problems liegt so: Ist die mittlere Generation heute von der Fülle der Unterhaltspflichten nicht komplett überfordert? Sandwich-Generation wird sie genannt.

Da sind erstens die Unterhaltspflichten gegenüber den Kindern, da sind zweitens die Unterhaltspflichten gegenüber den Eltern und da sind drittens die Unterhaltspflichten gegenüber jetzigen oder früheren Lebenspartnern. Die Zahl der Kinder ist zwar gesunken, aber die Unterhaltsbelastung für das einzelne Kind ist stark gestiegen. Kinder werden wesentlich später als früher finanziell selbständig, die Ausbildung dauert lange, der Arbeitsmarkt gerade für die Jungen ist unsicherer als früher. Väter und Mütter sind finanziell stärker und länger gefordert, die Kinder zu finanzieren. Die Zeit der langen und kostenintensiven Ausbildung der eigenen Kinder fällt aber sehr oft zusammen mit der Zeit, in der sich die Eltern im Rentenalter befinden. Die Mittelgeneration trägt in der Zeit, in der sie ihre Kinder großzieht, zugleich die Hauptlast der Rentenfinanzierung.

Weil die Menschen immer älter werden, wächst aber nun auch das Risiko, dass die mittlere Generation vom Staat für die Pflegekosten der alten Menschen in Anspruch genommen wird - der Fall, den der Bundesgerichtshof soeben entschieden hat, ist ein Exempel. Der Staat nimmt Regress für die Pflegekosten im Heim. Den sozialen Realitäten entspricht das nicht unbedingt - es entspricht einer Wunschvorstellung, wie Familie sein soll, aber so oft nicht mehr ist.

Der Sozialstaat hat die Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie begleitet; und das, was die Kleinfamilie objektiv nicht mehr bewältigen konnte, wurde ausgelagert: Kranke in Krankenhäuser, Alte in Altenheime, Sterbende in Sterbekliniken, Behinderte in Behindertenheime und Behindertenwerkstätten. Die Sozialleistungen wurden sozusagen entpersönlicht, sie wurden aus dem Sozialverband herausgenommen und monetarisiert, sie wurden in Großstrukturen institutionalisiert und verrechtlicht.

Aus sozialethischen Beziehungen wurden Rechtsbeziehungen, an die Stelle familiärer Handreichung trat der zuteilende Verwaltungsakt. In dem Maß, in dem zur Finanzierung all dessen das Geld fehlt, werden neue Gesetze versuchen, soziale Risiken zu refamiliarisieren - aber die Familie, die das leisten könnte ist (zum Teil auch mangels Förderung) nicht mehr vorhanden. Auch der immer häufiger finanzielle Rückgriff des Staates auf die Kinder, die für die Heimkosten der Eltern aufkommen sollen, gehört zu den Versuchen, sich an einen Kostenschuldner zu halten.

Die Professorin Ingeborg Schwenzer, sie ist Ordinaria für Familienrecht an der Universität Basel, hat schon vor 25 Jahren in der FamRZ, der Zeitschrift für Familienrecht, vorgeschlagen, "aufgrund der soziodemografischen Entwicklungen" den Verwandtschaftsunterhalt zu begrenzen - auf die Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber den Kindern. Im Übrigen sei die Unterhaltspflicht gegenüber Verwandten abzuschaffen.

Die Angst der Alten

Ist das herzlos? Wäre das die finale Schwächung der Familie? Im angloamerikanischen und im skandinavischen Recht haben Eltern gegenüber ihren Kindern gar keine Unterhaltsansprüche. Die umfassenden Unterhaltspflichten unter Verwandten, wie sie in Deutschland in Paragraf 1601 BGB festgeschrieben sind, sind, wie Schwenzer nachgewiesen hat, kein universales Rechtsprinzip, sondern Kennzeichen des deutschen und des romanischen Rechtskreises, also der Rechtsordnungen, die mehr oder minder stark vom römischen Recht beeinflusst wurden. Schon das römische Recht kannte die gegenseitige Unterhaltspflicht der in gerader Linie miteinander Verwandten.

Aber auch ohne diese Unterhaltspflicht haben sich anderswo Familien entwickelt. "Allein das Bestehen von Rechtspflichten", so hat Schwenzer festgestellt, habe "zu keiner Zeit maßgeblichen Einfluss auf das Verhalten von Menschen in engen personalen Beziehungen ausgeübt".

Viele alte Menschen in Heimen plagt die Vorstellung, dass der Staat für die Heimkosten auf ihre Kinder zurückgreifen könnte. Manche verzichten auf die ihnen zustehende Sozialhilfe ganz, weil sie befürchten, dass ansonsten der Sozialhilfeträger im Wege des Regresses ihre Kinder in Anspruch nimmt. Bei diesem Zugriff auf die Kinder geht es gewiss nicht um die Stärkung der Familie. Es geht um die Entlastung des Staates.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1886492
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.