Behinderung und Erotik:Im Internet fand er eine Frau, die ihn begehrte

Auch Christian Bayerlein war früher bei einer Sexualbegleiterin, für 120 Euro die Stunde, plus Anfahrtskosten. "Sehr technisch" sei das gewesen, erinnert er sich. Die Sexualbegleitung konnte seine Lust befriedigen, aber nicht seine Sehnsucht, begehrt zu werden. Im Internet hat er irgendwann eine Frau kennengelernt, die ihn begehrenswert fand - nicht trotz, sondern wegen seines krummen Körpers. "Das hat viel mit mir gemacht", sagt Bayerlein, "und zwar im positiven Sinn. Ich habe gemerkt, dass da ein Potenzial ist, das auch für mich spricht, für meine Körperlichkeit."

Eineinhalb Autostunden entfernt von Koblenz sitzt Ilse Martin auf einem Drehstuhl und bietet etwas zu trinken an. Sie klemmt eine Wasserflasche unter den Stumpf ihres linken Armes, schraubt mit der rechten Hand den Verschluss ab und gießt zwei Gläser ein. Hier, in ihrem Arbeitszimmer, forscht sie seit zehn Jahren über Menschen, die sich sexuell angezogen fühlen von Rollstuhlfahrern, von Arm- und Beinamputierten. Es sind Menschen, die sich oft ein Leben lang nicht trauen, ihre Neigung zu leben. Für die meisten, sagt Ilse Martin, seien solche Menschen pervers. "Darf ich nicht begehrenswert sein, weil ich behindert bin?"

Sie hat einen Arm, der unterm Ellbogen aufhört. Dysmelie, von Geburt an. Ihre Behinderung hat sie lange versteckt. Mal unter einem Poncho, mal hängte sie eine Jacke über ihren Stumpf, selbst bei 30 Grad im Schatten. Sie wollte sich schützen. Vor den neugierigen, den angewiderten, den mitleidigen Blicken. Und vor den lüsternen Blicken, die sie als junge Frau nicht fassen konnte. Den Blicken, wenn sie am Strand lag, ohne Poncho, ohne Jacke über dem Stumpf, nur im Bikini. "Ich dachte immer: Was wollen diese Männer? Sehen die nicht, dass ich nur einen Arm habe?"

Er streichelte in der Oper ihren Stumpf

Die Männer haben es genau gesehen, aber das hat Ilse Martin erst vor elf Jahren begriffen. "Damals hat eine mir bekannte Amputierte gesagt: Weißt du, dass es Männer gibt, die uns attraktiv finden?" Ilse Martin begann zu recherchieren - und stieß auf ein Internetforum für Behinderte und ihre Verehrer. "Das hat mich umgehauen, ich war eine Woche wie in Trance." Sie meldete sich an, chattete Tage und Nächte. Sie lernte einen Mann kennen, traf ihn in der Oper. Während der Aufführung griff der Mann nach ihrem Stumpf. Und streichelte ihn. "Das war einfach schön. Ich habe nicht mehr versucht, meinen Arm zu verstecken. Er war einfach da. Er gehörte zu mir." Und als sie später im Bett landeten, hat sie sich hingelegt und den Stumpf zum ersten Mal nicht hinter ihren Rücken gebogen.

Die Affäre war bald vorbei, ihre Neugier blieb. Sie hat weiter recherchiert, hat Fragebögen ins Internetforum gestellt, hat Antworten ausgewertet, hat verglichen. "Ich wollte rausfinden, was diese Menschen so toll finden an Behinderten." Inzwischen hat sie ein Buch über diese Menschen geschrieben - und über deren Vorliebe, die sie Mancophilie nennt: Liebe zum Mangel. Die Sexualforschung sieht darin eine gesunde Neigung, die Gesellschaft tut sich damit schwerer. In der Inklusionsdebatte spielt Sexualität praktisch keine Rolle.

Es ist, als gebe es ein kollektives Übereinkommen: Behinderte sollen neutrale, asexuelle Wesen sein. Wer das anders sieht, ist pervers. Das Ideal unserer Zeit ist eben der gesunde, vollkommene Körper. Platz ist da höchstens für den kleinen Makel, der als sexy gilt, solange der Rest des Körpers der Norm entspricht: die Zahnlücke von Vanessa Paradis, der kleine Höcker auf Toni Garrns Nase. Kürzlich ist ein beinamputiertes Model über den Laufsteg der New York Fashion Week gelaufen. Aber das war ein Einzelfall, kein Trend.

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