Betreuung von Babys und Kleinkindern:Das Glück im Getümmel

Neue Studien zeigen, dass die Betreuung in Krippen den Kindern guttut - und dass sich die Sichtweise der Wissenschaft verändert hat.

Felix Berth

Kann eine Krippe dem Kleinkind schaden? Braucht das Kind in den ersten Lebensjahren vielleicht doch die Betreuung durch eine Mutter, die ständig da ist?

BABY KOMMUNIZIEREN

Im Spiel lernen Kinder den Umgang mit anderen und erwerben so, was der Fachmann soziale Kompetenz nennt.

(Foto: DPA)

Schon einmal hat eine Unionspolitikerin diese Frage aufgeworfen und verneint: Ursula Lehr, Bundesfamilienministerin von 1988 bis 1991, forderte gleich nach ihrem Amtsantritt einen Ausbau von Krippen und Tagesmütter-Betreuung. Öffentlich ärgerte sie sich über die TV-Serie ,,Schwarzwaldklinik'', in der eine Verhaltensstörung des Brinkmann-Sohnes auf die Berufstätigkeit der Mutter zurückgeführt wurde.

,,Die Berufstätigkeit der Mutter schadet dem Kind besonders dann nicht, wenn der Vater dahintersteht, wenn er eine Rolle als Berufstätiger und als Vater spielt und wenn die Frau Spaß an ihrer Berufstätigkeit hat'', sagte die CDU-Politikerin damals der Zeitschrift Brigitte.

Wie derzeit Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen plädierte auch ihre Parteikollegin Ursula Lehr vor fast zwanzig Jahren für den Ausbau von Krippen und Ganztags-Kindergärten. Damals allerdings folgte diesem Vorschlag wenig Zustimmung - es dominierte republikweit Empörung.

,,Frühablieferung in Windeln''

Der Widerstand gegen Lehrs Pläne entwickelte sich in einer süddeutsch geprägten Koalition von Unionspolitikern und Kinderärzten: Bayerns Ministerpräsident Max Streibl warnte vor Verhältnissen wie in der DDR; der Bayernkurier der CSU fürchtete eine ,,Frühablieferung der Zweijährigen im Kindergarten, vielleicht auch noch in Windeln''.

Der als moderat geltende CSU-Fraktionschef im bayerischen Landtag, Alois Glück, sah in Kinderkrippen einen ,,sozialistischen Irrweg'', und ein Beschluss des bayerischen Kabinetts lehnte ,,ein Leitbild der Frau ab, das einseitig von emanzipatorischen Vorstellungen geprägt ist''.

Zustimmung erhielten diese Unionspolitiker von den Kinderärzten - und zwar von herausragenden Vertretern ihres Fachs. So wehrte sich Theodor Hellbrügge, Professor für Pädiatrie und Gründer des Kinderzentrums München, dagegen, dass eine Familienministerin versuche, ,,mit emanzipatorischen Ideen kleine Kinder in Krippen zu stecken''.

Haben sich die Ideale der Frauenemanzipation allmählich durchgesetzt?

Johannes Pechstein, Professor für Kinderheilkunde in Mainz, wetterte im Münchner Merkur gegen Ursula Lehr, deren Titel er konsequent in Anführungszeichen setzte: ,,Familienministerin''. Sein wichtigstes Argument: Die Betreuung in Krippen nütze möglicherweise den beruflichen Zielen der Frau, doch sie gefährde das Wohl eines jeden Kindes.

Mehrere Fachverbände der Kinderärzte formulierten gemeinsam eine ähnliche Warnung. Sie beriefen sich dabei auf Studien über Kinder, die in den ersten Lebensjahren fremdbetreut worden waren. Darin zeige sich, dass diese Kinder überdurchschnittlich häufig emotionale und soziale Fehlentwicklungen aufwiesen. Krippenbetreuung solle daher ,,auf soziale Notsituationen beschränkt bleiben''.

Knapp zwanzig Jahre später muten solche Positionen antiquiert an. Selbst die CSU akzeptiert den Ausbau von Kinderkrippen. Doch liegt dies nur daran, dass sich die Ideale der Frauenemanzipation allmählich durchgesetzt haben? Daran, dass westliche und nördliche Nachbarstaaten seit Jahren die Unschädlichkeit von Kinderkrippen beweisen? Oder daran, dass sich die Sichtweise der Wissenschaftler geändert hat?

Das Glück im Getümmel

Vermutlich wirken alle Faktoren zusammen; am auffälligsten ist allerdings, wie sehr sich die psychologische Forschung in zwei Jahrzehnten gewandelt hat. Der Fokus der Wissenschaft verschob sich, wie die Heidelberger Psychologie-Professorin Sabina Pauen feststellt.

In den achtziger Jahren fragte die Bindungsforschung danach, ob eine ,,sichere primäre Bezugsperson'' wichtig sei und fand als Antwort: Ja, denn Kinder, die in einer sicheren Beziehung zu ihren Müttern aufwachsen, hätten mehr Selbstvertrauen, mehr soziale Kompetenz.

In den neunziger Jahren entdeckten die Neuropsychologen den ,,kompetenten Säugling'': Sie stellten in Versuchen fest, zu welchen Lernleistungen Kleinkinder fähig sind: Sie können im Alter von sechs Monaten bereits Lebewesen von unbelebten Gegenständen unterscheiden, lernen viel durch eigene Beobachtungen und haben deshalb Spaß an einer lebendigen Umgebung.

Die bloße Präsenz der Mama genügt keinesfalls

,,Wir haben entdeckt, wie komplex das Gefühls- und Geistesleben von Säuglingen und Kleinkindern ist, wie lernbereit Babys sind und wie wichtig es zu sein scheint, ihrem sich in Reifung befindlichen Gehirn jene Stimulierung zukommen zu lassen, die es erwartet und braucht'', sagt Sabina Pauen.

Kleinkinder sind in dieser Sichtweise nicht mehr ausschließlich höchst verletzliche Wesen, bei denen Wärme, Sauberkeit, mütterliche Nähe und Ernährung wichtig sind - ihre Bedürfnisse umfassen auch eine anregende Umgebung.

Dabei komme es, so Pauen, stark darauf an, welche Qualität die Beziehung eines Kleinkindes zu seiner Bezugsperson hat: Feinfühlige Eltern erkennen die Bedürfnisse ihrer Kinder und orientieren sich daran; misslingt dies jedoch, dann scheint die Entwicklung eines Kindes gefährdet zu sein. Bloße Präsenz einer Mama, so lässt sich folgern, genügt keinesfalls.

Einige empirische Untersuchungen stellten das Credo der Bindungsforschung zusätzlich in Frage. So zeigte eine Studie von Ross Thompson, dass bei Adoptivkindern die Dauer ihres Heimaufenthalts wenig Einfluss auf ihre Bindungsfähigkeit hat: Nur den Kindern, die schon im ersten halben Lebensjahr ein Heim verlassen konnten und in eine Familie kamen, fielen später Bindungen deutlich leichter; bei den übrigen war es, so Thompson, nicht entscheidend, ob sie zwei, drei oder fünf Jahre im Heim bleiben mussten.

,,Krippen zerstörten ein Volk''

Außerdem beobachtete zum Beispiel Carollee Howes in US-Kindergärten, dass vor allem jene Kinder Kontaktschwierigkeiten hatten, die ihre ersten drei Lebensjahre fast nur bei der Mutter verbracht hatten. Wenn Kinder bereits als Babys regelmäßig mit anderen Kleinkindern zusammentrafen, waren sie sozial kompetenter. Das vorsichtige Resümé von Sabina Pauen: Es deute sich an, ,,dass eine externe Betreuung nicht mit Nachteilen, sondern vermutlich sogar mit Vorteilen für die kindliche Entwicklung verbunden ist.''

Allerdings sei in Krippen wie in Kindergärten oder den Elternhäusern die Qualität der Arbeit entscheidend: Wenn die Betreuer kompetent sind, die Personalschlüssel gut und die Rahmenbedingungen stimmig, profitierten Kinder von den Erfahrungen in den Krippen. Ein Plädoyer für das DDR-System mit seinen rigiden Regeln ist das jedenfalls nicht.

Sabina Pauens Position, die sich auch im jüngsten Familienbericht der Bundesregierung widerspiegelt, ist inzwischen für viele Kinderärzte akzeptabel. Freilich nicht für alle: Johannes Pechstein wandte sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung noch im Jahr 2003 gegen jede Form der Krippenbetreuung, und seine Mitstreiterin Christa Meves, 81, betonte vor wenigen Tagen in einem FAZ-Interview, dass kleine Kinder zur Mutter gehören.

,,In der früheren Sowjetunion konnte man sehen, dass 70 Jahre Krippenerziehung ein Volk zerstören'', sagte die Therapeutin. Ein polemischer Vergleich, der in der wissenschaftlichen Welt aber nicht mehr die Position der großen Mehrheit abbildet.

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