Süddeutsche Zeitung

Bertelsmann-Studie:Schattenseiten des Glaubens

Die Diskussion um den Islam bringt das Religiöse zurück - dabei sollte die Religion in modernen Gesellschaften nicht im Vordergrund stehen. Das fördert die Abgrenzung und stört das Zusammenleben.

Kommentar von Tomas Avenarius

Der Schriftsteller Navid Kermani hielt 2015 in der Frankfurter Paulskirche eine denkwürdige Rede. Der iranischstämmige Autor, der sich immer wieder zu Flucht, Einwanderung und Integration, zu Toleranz und Ausgrenzung und zum Zusammenleben der vielen verschiedenen Deutschen in der einen deutschen Gesellschaft äußert, sprach damals über die Lage in Syrien und den Zustand der muslimischen Welt. Als er zum Ende kam, bat er seine Zuhörer aufzustehen und erhob die Hände zur islamischen Gebetsgeste. Es war Ausdruck seines Mitgefühls für die Opfer des syrischen Bürgerkriegs, auch für die verfolgten Christen.

Die Zustimmung im Saal, in den Medien und bei den Bürgern war groß. Für viele war der Auftritt ein tief anrührender Beleg dafür, dass der Islam in der Gesellschaft seinen Platz gefunden hat und einer der klügsten Intellektuellen des Landes als Vertreter dieses Glaubens nun auf dem Podium stand. Jetzt, zwei Jahre später, hat die Bertelsmann-Stiftung die Studie "Muslime in Europa" herausgebracht. Sie fragt nach dem Zusammenhang von Religiosität und Integration auch in Deutschland.

Seit Jahrzehnten wandern Muslime nach Deutschland ein

Auch wenn die Untersuchung sich in Details verliert, wird eines klar: Die meisten Deutschen, gut 80 Prozent, akzeptieren Muslime als Nachbarn. Und damit als Mitbürger. Die Muslime selbst fühlen sich dem Land in der überwältigenden Mehrheit verbunden und damit oft als Deutsche. Beschleunigt wird eine noch tiefere Integration durch mehr Sprachkenntnis und gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, mit denselben Karrierechancen.

All das kann nicht verwundern in Deutschland im Jahr 2017, einem Land, in das seit Jahrzehnten auch Muslime einwandern, auf der Suche nach Arbeit oder nach Sicherheit vor Krieg und Verfolgung. In einer Gesellschaft, in der die Kinder und Enkel der ersten Zuwanderergeneration auf deutsche Schulen gehen, in Parlamenten, Kliniken und Ämtern arbeiten, auf Bühnen Musik machen, in Vereinen nach dem Ball treten - und bei all dem aus ihrem Glauben kein großes Thema machen.

In Zeiten, in denen die Medien notgedrungen tagtäglich über islamistischen Terror, Hassprediger und National-Islamisten wie den Türken Erdoğan berichten, und dies das Bild der Deutschen über die Muslime ungewollt negativ beeinflusst, setzt diese Studie also einen wichtigen Akzent.

Der heutige Islam aus dem arabischen Raum ist politisiert

So weit, so gut - man sollte hier das Positive durchaus betonen. Aber Kermanis Gebetsgeste in der Paulskirche hat noch eine zweite Facette. Sie hat zwar gezeigt, wie sehr Muslime Teil und Träger der modernen Bürgergesellschaft geworden sind. Sie hat aber - ebenso wie nun die Bertelsmann-Studie -, verdeutlicht, dass mit dem Islam und vor allem mit der Debatte um den Islam das Religiöse als solches zurückkehrt in die Gesellschaft. Welcher als Christ geborene, seinen Glauben lebende Schriftsteller hätte sein Publikum in so einer Situation mit dem Schlagen des Kreuzes konfrontiert? Es fällt einem keiner ein.

Der Glaube, welcher auch immer, gibt Menschen Wertvorstellungen an die Hand. Er vermittelt Halt und Geborgenheit, wenn das Leben einen Menschen zu stark schüttelt. Eine allzu sichtbare Präsenz des Religiösen hat in modernen Gesellschaften aber Schattenseiten. Das betrifft keinen wie den Autor Kermani - die Frage lautet, wie die Masse der Muslime in Deutschland sich integriert. Wenn Muslime ihre Identität über eine - in ihren Augen beispielhafte - , zur Schau getragene Religiosität absichern wollen, grenzen sie sich von anderen ab und sich selbst aus. Im modernen Leben sollte das Religiöse nicht mehr im Vordergrund stehen.

Die Bertelsmann-Studie gibt der Gesellschaft zwar den Rat, noch mehr muslimische Eigenheit zu akzeptieren. Das unterschlägt aber, dass der Islam sich immer wieder wandelt. Der Glaube mag bei Muslimen früherer Migrantengenerationen - etwa der türkischen - ebenso tief gewesen sein wie heute; der Studie zufolge bezeichnen sich fast die Hälfte der Befragten als sehr gläubig. Der Islam selbst trat damals aber anders in Erscheinung: Er war traditionell und weit weniger politisiert. Der heutige Islam, der aus dem arabischen, nordafrikanischen und südostasiatischen Raum im Besonderen, ist jedoch genau das: politisiert. Er wird von vielen teils oder in Gänze als Blaupause für das Zusammenleben der Gesellschaft verstanden. Genau aus diesen Regionen kommen aber viele der heutigen Migranten. Bezeichnenderweise wurde diese neue Einwanderergeneration in der Studie nicht befragt.

Bei Integration geht es nicht um Abwendung von der Religion

Wer die Integration dieser Menschen garantieren möchte, muss klarmachen, dass eine allzu öffentliche Rückversicherung im Glauben - mit uniformhafter salafistischer Kleidung, faustlangen Bärten und einer religiös aufgeladenen Sprache - nur das Wechselspiel von Integration und Akzeptanz stört. Und genau das erklärt - in Teilen und zusammen mit immer noch existierenden rassistisch-fremdenfeindlichen Denkmustern - die in der Studie erwähnte hohe Ablehnung gegenüber Flüchtlingen, die neu ins Land kommen. Glaube verbindet zuerst einmal mit Menschen eigener Konfession. Das Glaubensbekenntnis ist auch Ausdruck der Abgrenzung gegen Andersgläubige. Das gilt selbst dann, wenn dieses - wie bei den Christen - Nächstenliebe predigt oder - wie bei den Muslimen - den Respekt vor anderen Monotheisten-Religionen zur Pflicht macht.

Eigentlich sollte es keinen Deutschen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, heutzutage noch interessieren, wann und wo und wie andere Deutsche zu ihrem Gott beten, ob sie Muslime, Christen, Juden oder säkular sind, ob sie mit Bart, Kopftuch oder Kippa herumlaufen. Solange einer mit seiner Weltsicht nicht hausieren geht, zählt im Zusammenleben anderes: Ob die Leute von nebenan einen grüßen, ob sie bei der Arbeit gute Kollegen sind, für den richtigen Verein fiebern. Es geht darum, ob sie einem ab und an mit einem Stück Brot oder Butter aushelfen und so viel Vertrauen in einen setzen, dass sie bitten, die Kinder zu hüten oder im Urlaub die Blumen zu gießen. Die Frage nach der Religion stört da nur.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2017
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