Kolumne: Vor Gericht:Das vermisste Mädchen

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Berlin 2019: Der angeklagte und später verurteilte Familienvater vor Gericht. (Foto: Paul Zinken/dpa)

Eine 14-Jährige verschwindet auf dem Heimweg von der Schule. Der Fall gilt als unlösbar – bis nach 13 Jahren die Wahrheit ans Licht kommt.

Von Verena Mayer

Am meisten mag ich an der Arbeit als Gerichtsberichterstatterin, dass sich immer wieder Fenster zur Vergangenheit öffnen. Dass Verbrechen angeklagt werden, deren Aufklärung sich niemand mehr vorstellen konnte. Ein Fall ist mir besonders gut in Erinnerung. Es ging um ein vermisstes Mädchen, 2006 in Berlin. Die 14-Jährige wohnte in einer ruhigen Straße im Stadtteil Moabit und war wie jeden Tag auf dem Weg von der Schule nach Hause, als sie verschwand. Die Sache wurde nicht besonders ernst genommen, die meisten Teenager, die von ihren Eltern als vermisst gemeldet werden, tauchen nach kurzer Zeit wieder auf.

Doch es vergingen Tage, Wochen, Jahre, und das als verlässlich bekannte Mädchen blieb verschwunden. Immer wieder habe ich in Berlin Plakate mit ihrem Gesicht gesehen, die Artikel über sie gelesen, in denen ihre verzweifelte Mutter versuchte, das Interesse an dem Vermisstenfall wachzuhalten. Bis plötzlich, dreizehn Jahre später, ein Mann ausfindig gemacht wurde, der das Mädchen getötet hatte. Es war ein Nachbar, der die ganze Zeit in derselben Straße gelebt hatte.

Vor Gericht bekam man Antworten auf die Fragen, die man sich all die Jahre gestellt hatte. Was mit dem Mädchen passiert war – der Nachbar hatte es unter einem Vorwand in seinen Keller gelockt, erwürgt und die Leiche im Müll entsorgt. Welchen Hintergrund der Mann hatte – der Familienvater war ein vorbestrafter Sexualstraftäter und in seinem Viertel bekannt dafür, Mädchen und junge Frauen zu belästigen. Warum man nicht früher auf seine Spur gekommen war – die Behörden hatten ihn zwar auf dem Schirm, aber erst viele Jahre später mit dem vermissten Mädchen in Verbindung gebracht.

Vor allem aber erfuhr man im Prozess, welche Anstrengungen unternommen worden waren, um den Fall aufzuklären, und mit welch abenteuerlichem Plan dies schließlich gelang. Drei verdeckte Ermittler schlichen sich nämlich in das Leben des Nachbarn ein, dienten sich ihm als Freunde an, nahmen ihn mit auf Reisen oder ins Bordell. Er sei dadurch regelrecht aufgeblüht, erzählte der Sohn des Angeklagten vor Gericht, habe das Leben mit seinen neuen Freunden genossen. So sehr, dass er diesen aus einer Notlage helfen wollte. Denn einer der Freunde, so lautete die Legende der verdeckten Ermittler, hatte Probleme mit einem Konkurrenten aus der Unterwelt. Und suchte nun jemanden, der einen Mord für ihn begeht. Der Familienvater erklärte sich dazu bereit, mit der Begründung, er habe schon einmal getötet, ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Die verdeckten Ermittler zeichneten alle Gespräche auf, 2020 wurde der Mann wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.

Ich weiß noch gut, wie erleichtert die Schwester des Opfers nach der Urteilsverkündung wirkte. Sie sagte, dass sie nun endlich mit der Vergangenheit abschließen könne. Und ich selbst dachte, dass der abgedroschene Satz über die Mühlen der Justiz stimmt. Dass Gerichtssäle zu den Orten gehören, an denen irgendwann die Wahrheit ans Licht kommt.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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